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Die verschwundenen Augen

Zwei Kinderbücher aus Israel  ■ Von Nina Schindler

David ist zwölf und befindet sich in einer höchst ungewöhnlichen Situation: Versteckt unter dem Bett seines alten Freundes Heinrich Rosenthal hört er, wie dieser von einem alten Rivalen zum Duell gefordert wird — auf Leben und Tod. Beide Männer haben vor langer Zeit an der Heidelberger Universität studiert und beide haben nach ihrer Emigration nach Israel die Malerin Edith Strauss geliebt. Als Edith schließlich einen Engländer heiratete und mit ihm fortging, schenkte sie ihren beiden ehemaligen Geliebten ihre zwei letzten Bilder: Ihre Augen bekam Rudi Schwarz und den Mund erhielt Heinrich Rosenthal. Nun sind „Die Augen“ verschwunden und Schwarz verdächtigt seinen ehemaligen Nebenbuhler. Dieser beteuert seine Unschuld, dennoch fordert ihn Schwarz zum Duell, und Rosenthal hat gemäß des alten Heidelberger Ehrenkodexes keine andere Wahl: er nimmt an. Mit Hilfe seiner alten Freude Vera und Abraham vom Trödlerladen versucht David, etwas über die Malerin zu erfahren, die offensichtlich eine solch unerhörte Bedeutung für die beiden alten Männer hat. Bei seinen Recherchen trifft er auf einen vermeintlichen Dieb — doch der entpuppt sich als Ediths Tochter Ann, die nach Israel gekommen ist, um mehr über ihre verstorbene Mutter in Erfahrung zu bringen. Ann hat sich den „Mund“ ihrer Mutter von Schwarz ausgeborgt, allerdings ohne dessen Wissen, und so unwillentlich das Duell ausgelöst. Gemeinsam gelingt es David und seinen Freunden, die beiden Kontrahenten im letzten Augenblick vom Schießen abzuhalten. Beide schenken Ann ihre letzte kostbare Erinnerung an Edith.

David Grossmann verwebt in Ein spätes Duell ein — vielleicht — reales Ereignis mit der Schilderung der exzentrischen Charaktere, die es auslösten. Eine vergangene Liebe und die Erinnerung daran erweisen sich als stark genug, zwei alte Männer in Todesgefahr zu bringen. Doch auch die Gegenwart ist mächtig und kann den Bann endlich lösen, beide alten Männer lieben in der Tochter der Geliebten ihre Erinnerungen... Der junge Ich-Erzähler verbindet die Surrealität der Geschehnisse mit einer kindlich-nüchternen Suche nach Erklärungen und erzeugt damit eine äußere Dramatik analog zu der inneren Spannung der Handlung. Vergangenheit in Israel ist aber — so wird uns fast nebenher mitgeteilt — unlösbar mit unserem Land verbunden; mit Sätzen wie: „Mit mir zusammen arbeiteten Leute, die in Deutschland ihren Doktorgrad gemacht hatten, und hier mußten sie sich mit irgendwelchen Arbeiten durchbringen.“

Avihas Geschichte dagegen hat unmittelbar mit der Vergangenheit zu tun: Nach vielen Jahren wird sie von ihrer Mutter aus dem Kinderheim geholt, Aviha weiß, daß die Mutter bislang zu krank war, um ihre Tochter zu sich zu nehmen, und der Vater war schon vor ihrer Geburt gestorben: Der Sommer von Aviha von Gila Almagor. Ein neues Leben beginnt. Die Mutter arbeitet als Wäscherin in einer kleinen Siedlung, Aviha hilt ihr. Erfolglos bemüht sie sich um die Freundschaft der schönen Maja, die den Kindern wohlhabender Eltern Tanzunterricht gibt. Gekränkt durch die Zuwückweisung, rächt Aviha sich und verletzt Maja so schwer am Auge, daß diese ins Krankenhaus muß. Reumütig sucht die Jüngere Vergebung für ihre Tat, und Maja freut sich über ihre Besuche. Doch nach ihrer Genesung verhindert die dünkelhafte Mutter jeden weiteren Kontakt; Aviha ist wieder allein mit ihren Fantasien und den Problemen im Zusammenleben mit ihrer Mutter.

Den Leuten in der Siedlung ist Avihas Mutter unheimlich, sie haben ihr den Spitznamen „die Persianische“ gegeben, und das meinen sie keineswegs ehrenvoll, sondern übertragen ihre Abneigung gegen die ehemalige Widerstandskämpferin sogar noch auf die Tochter. Nur wenig erfährt Aviha über die Vergangenheit der Mutter, über deren Erlebnisse im Krieg und über ihren Vater. Aber sie begreift, daß die Zeit im Konzentrationslager der Mutter die unheilbaren Wunden zugefügt hat, die sie immer wieder psychisch erkranken lassen. Neben wenigen schönen Erlebnissen füllt sich Avihas Tagebuch mit den lakonischen Aufzeichnungen ihrer bitteren Erfahrungen, wie der Demütigung, als die eingeladenen Gäste zu ihrem zehnten Geburstag nicht erscheinen. Am Ende des Sommers wird die Mutter wieder krank und so muß Aviha entgegen aller gemeinsamen Pläne ins Heim zurück.

Die wohl stark autobiographisch geprägte Erzählung zeigt einmal mehr die generationenüberdauernde Zerstörung, die die Verbrechen der Nazizeit bei ihren Opfern bewirkte. In unsentimentalen Worten berichtet die Autorin, was es bedeutete, nach dem Zweiten Weltkrieg in Israel als Kind einer ehemaligen KZ-Gefangenen zu leben, die den Anschluß an die Normalität des Lebens im Frieden nicht mehr findet, der aber auch in Israel keine Hilfe zuteil wird.

Beide Bücher hat Mirjam Pressler, selbst eine bekannte Jugendbuchautorin, übersetzt. Mit Der Sommer von Aviha beginnt Mirjam Pressler darüber hinaus auch die Herausgabe eines ganzen Programms israelischer Kinderbücher, das vom Alibaba-Verlag in den nächsten Jahren vorgelegt werden wird. Gute Kinder- und Jugendbücher aus einem Land, das uns mehr angeht als manches andere.

David Grossmann: Ein spätes Duell , aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Carlsen Verlag, Hamburg 1990, 110 Seiten, 16,80 DM (ab 12)

Gila Almagor: Der Sommer von Aviha , aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Alibaba Verlag, Frankfurt/Main, 1990, 110 Seiten, 19 DM (ab 12)

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