Konzentrierte Gesichter

„Starke Jahrgänge“ — Porträt einer Generation, Filmreihe von Reinhardt Kahl, 17.15 Uhr, N3  ■ Von Heide Soltau

Zehn Jahre lang hat Reinhard Kahl den Lebensweg von Jugendlichen begleitet, hat Gespräche mit ihnen geführt, sie bei der Arbeit gefilmt. Herausgekommen ist eine Langzeitdokumentation, die eindrucksvoll belegt, wie zäh Jugendliche an ihren Träumen festhalten und bereit sind, sich dafür zu engagieren, wenn sie nur die geringste Chance sehen, sie wenigstens in Ansätzen zu verwirklichen.

Dabei sah es einmal düster für sie aus: 1980, als sie die Schule verließen, SchülerInnen schrieben sich die Finger an Bewerbungen wund, Lehrlinge standen am Ende ihrer Ausbildung auf der Straße, und für StudentInnen hieß es Abschied nehmen von den Privilegien der Akademiker. Die Jugend von 1980 hatte schnell ihren Stempel weg: „no future generation“. Aber stimmt das? Haben sich die Jugendlichen je selbst so gesehen? So ohne Zukunft?

Das überraschende Ergebnis der vierteiligen Fernsehserie von Reinhard Kahl lautet: nein. Silke und Siggi zum Beispiel, arbeitslose Lehrerin und Psychologiestudent ohne Aussicht auf feste Anstellung (im ersten Film am vergangenen Donnerstag): „Inzwischen freue ich mich, nicht Lehrerin zu sein. Was ich jetzt mache, ist viel kreativer“, sagt Silke, während im Hintergrund eine muntere Kindergruppe herumhopst. Ihr Ausweg aus der Arbeitsmarktkrise: Turn- und Musikstunden für Kinder und Eltern geben und zusammen mit ihrem Freund Siggi Familienurlaube veranstalten. Arbeitslosigkeit als Chance, jenseits vorgegebener Pfade nach eigenen Wegen zu suchen. Und das nicht nur übergangsweise bis zur gutbezahlten Staatsanstellung. Der kleine Betrieb von Silke und Siggi floriert noch heute, und beide kämen in arge Bedrängnis, wenn ihnen jetzt eine Stelle angeboten würde. Das kann sich Silke höchstens für halbe Tage vorstellen. Ihre Kurse jedenfalls will sie nicht aufgeben.

Während man diesem ersten Film vorwerfen kann, eine Idylle in Szene gesetzt zu haben — freilich eine, die das Leben und nicht der Autor entworfen hat —, gilt das für die anderen Teile nicht. Im dritten Film stehen junge Frauen im Mittelpunkt, die 1980 an einem Modellversuch „Mädchen in gewerblich-technischen Berufen“ in Braunschweig teilgenommen haben. Wie sind sie stolz, daß sie an den Maschinen herumwerkeln dürfen! „Auf der Drehbank mit Metall arbeiten, als wäre es Butter“, schwärmt eine von ihnen. Den anderen Lehrlingen zeigen, daß sie die Arbeit genauso gut schaffen wie Jungs — vor zehn Jahren noch ein mühsames Überzeugungsgeschäft. Und dann das zufriedene Lächeln von Rea am Ende der Lehre zur Maschinenschlosserin: Sie hat als Beste ihres Jahrgangs abgeschlossen.

Liebevoll fängt Reinhard Kahl diese Szenen ein, zeigt die bei der Arbeit konzentrierten Gesichter, aus denen Neugier und Offenheit sprechen — Bilder von ergreifender Schönheit. Doch nach drei Jahren Lehre ist Schluß. Jedenfalls für Doris. Kein Bedarf an Kfz-Mechanikerinnen, heißt es. Sie wird Lagerarbeiterin, mit zusammengebissenen Zähnen.

Vorübergehend sieht es so aus, als habe sie resigniert. Die Jahre vergehen, äußerlich verändert sich kaum etwas. Aber in Doris gärt es. Sie findet zu ihrem alten Elan zurück. Im vergangenen Sommer hat Reinhard Kahl sie noch einmal besucht und eine muntere, pläneschmiedende Doris angetroffen: Nach Feierabend repariert sie Autos von Freunden und Bekannten und plant, im kommenden Jahr eine Frauenwerkstatt zu eröffnen.

Freilich entwickeln sich nicht alle Lebensgeschichten so positiv. Ulli P. zum Beispiel, um dessen Biographie der heute Nachmittag gesendete Fernsehfilm kreist, macht zehn Jahre nach Beginn seiner Kfz-Mechanikerlehre genau das, was er nicht wollte: Er steht an einer fast automatischen Maschine bei VW und stellt Nockenwellen her. Doch aufgegeben hat er nicht. Noch nicht. Abends geht er zur Schule, um sich eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Es muß ihm schwergefallen sein, den Zipfel Hoffnung nicht zu verlieren. In sein Gesicht haben sich die Enttäuschungen der vergangenen Jahre eingegraben. Aus dem hübschen, frischen 17jährigen ist ein ernster Mann geworden, der um etliches älter aussieht. Spuren eines harten, mit Enttäuschungen gespickten Lebens.

Starke Jahrgänge hat Reinhard Kahl seine Filmreihe genannt und dabei mit dem Doppelsinn dieses Titels gespielt: Die geburtenstarken Jahrgänge, die Jugendlichen von 1980, sie haben tatsächlich Power und den Mut, nicht nur von einem besseren Leben zu träumen, sondern auch etwas dafür zu tun. Vorausgesetzt allerdings, man läßt ihnen wenigstens einen kleinen Entwicklungsspielraum. Vier bewegende Filme, von denen zu hoffen ist, daß sie von anderen Dritten Programmen übernommen werden und dann zu einer besseren Sendezeit laufen. Eine so außergewöhnliche Langzeitdokumentation verdient auch außergewöhnliche Aufmerksamkeit.