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Geiselnahme im „Paletti“

■ Scherf verhandelte und sicherte Straffreiheit zu / Versprechen null und nichtig

Straffreiheit hatte Henning Scherf Köksal S. während einer Geiselnahme im Januar 1989 zugesichert. Seit gestern nun steht der 30jährige S. vor Gericht. Er soll den Rechtsanwalt Wolf Leschmann vom 20. bis zum 23. Januar 1989 in seinem damaligen Lokal „Paletti“ in der Neustadt festgehalten und vom Senat 1.000.000 Mark, einen Waffenschein für seine Pistole und eine Straffreiheitserklärung erpreßt haben. Auf diese Erklärung berief sich gestern S.s Verteidiger Leinweber und beantragte die Absetzung des Verfahrens. Begründung: Sein Mandant habe der Zusicherung Scherfs vertraut. Wenn diese jetzt nicht mehr gelte, werde das negative Auswirkungen auf künftige Verhandlungen mit Geiselnehmern haben. Die 1. große Strafkammer des Bremer Landgerichts lehnte den Antrag ab. Erstens sei Scherf zu der Straffreiheitserklärung genötigt worden, zweiten eine solche Zusicherung des Bürgermeisters für das Gericht ohnehin nicht bindend.

Neben Köksal S. auf der Anklagebank saß Günter H., beschuldigt wegen Beihilfe zur Geiselnahme. Beide hüllten sich vorerst in Schweigen. Der erste von vermutlich drei Verhandlungstagen beschränkte sich im Wesentlichen auf die Vernehmung des gekidnappten Rechtsanwaltes.

Leschmann hatte seit 1986 in verschiedenen Immobiliengeschäften mit der Familie S. zu tun. Wegen heftiger Machtkämpfe zwischen Vater und Sohn wurde Köksal aus dem Geschäft gedrängt, bis hin zu gerichtlichen Auseinandersetzungen, bei denen Leschmann den Vater vertrat. Am Abend des 20.1.89 waren im Anwaltsbüro letzte Schritte zur Übernahme des „Paletti“ durch den Vater eingeleitet worden. Köksal S. fing Leschmann vorm Büro ab und lockte ihn unter einem Vorwand ins Lokal, wo er ihn nach einer kurzen Ouvertüre niederschlug und fesselte.

In langen Gesprächen über das Verhältnis zwischen Vater und Sohn S., Türken und Deutschen entwickelte S. Vertrauen zu seiner Geisel. „Ich wurde immer stärker zu seinem Berater“, so Leschmann. Köksal S. hatte massive finanzielle Probleme und fühlte sich von der deutschen Justiz in den Auseinandersetzungen mit seinem Vater betrogen. Alle Prozesse sollten wieder aufgerollt und er vor der Familie und der Öffentlichkeit rehabilitiert werden. Dazu wollte er die Million „von der Regierung“. Leschmann, bemüht, die eigene Haut durch ein unspektakuläres Ende zu retten, nannte S. die Namen von einigen Senatoren, darunter Henning Scherf. Der wurde von S. angerufen und versprach, sich „um die Sache zu kümmern.“ Alles ließ sich gut an. Doch dann fuschte die „Außenwelt“ in Gestalt der Bremer Polizei dazwischen. Die war wegen der öffentlicen Kritik an ihrer Schlappe mit den Gladbecker Geiselnehmern, die erst wenige Wochen zurücklag, in Zugzwang. Ein Bruchteil davon drang bis in die Innenwelt des „Paletti“ vor und versetzte Köksal S. in Panik. Nach nervösen Telefonaten legte die Außenwelt schließlich doch die drei geforderten Pfänder vor die Tür. Leschmann und S. verließen nach „Umarmung und Bruderkuß“ gemeinsam das Lokal, wo die Polizei den völlig erschöpften Täter sofort überwältigte. Montag wird der Prozeß fortgesetzt. Annemarie Struß-von Poellnitz

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