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Psychogramm einer Republik

■ Über Genschers Blinzeln und Vogels Farbskala: Porträts und Reportagen von Jürgen Leinemann Der Autor wittert geradezu die Momente, in denen die Maske fällt/ Gegen Fassaden anschreiben

Leinemann ist Luxus. Für den 'Spiegel‘, der sich diesen Reporter leistet und ihn wochen- oder auch monatelang eine Bonner Figur verfolgen, beobachten, analysieren läßt — ein einziges Porträt. Und für den Leser. Wer Leinemann liest, muß Geduld aufbringen, zwölf Seiten verkraften über Kohl, 25 über Hans-Jochen Vogel, 40 über Strauß. Leinemann schreibt über die Namen, die Nachrichten sind, und er schreibt unbarmherzig genug, daß sich das Durchhalten lohnt.

Eine Auswahl seiner Geschichten hat der Autor jetzt im Schweizer Verlagshaus herausgebracht: Nur nicht weiter so. Ein Wählerbuch — Porträts und Reportagen, das Psychogramm einer Republik. Leinemann zeichnet Macherporträts, befaßt sich mit denen, die ohnehin täglich in Tagesschau und Heute zu sehen sind, dem Wahlvolk das Wählen zu verleiten. Er schaut genauer hin. Er sieht und hört und kriecht fast in die Gestalten hinein und sucht den Menschen im Politiker; wenn es einen gibt, dann findet er ihn.

Seine Porträts leben vom Detail. In Genschers Blinzeln entdeckt er den Widerschein von dessen politischer Taktik — „ein Trick, um den Gesprächspartner in seinen suggestiven Sog zu ziehen“. Bei Vogel legt er die Farbskala als Stimmungsbarometer an, das Gefühle verrät bei einem Mann, der als leibhaftiger Aktenvermerk durch die Bonner Institutionen wandelt: Der Fraktionsvorsitzende, stellt der Reporter fest, ist ein Mensch, „der sich in Sekundenschnelle verfärben kann vom erschöpften Grauweiß bis zum Wutlila, dessen Gesicht aber in ein zufriedenes Rosa getaucht ist, wenn er sich wohlfühlt: babyrosa.“

„Der Minister ist der Mann neben mir“

Leinemann wittert die Momente, in denen die Maske fällt, wenn zwischen Absichtserklärungen und Verlautbarungen versehentlich ein Stück vom Menschen erkennbar wird. Wie bei Uwe Barschel, den er im Wahlkampf von 1987 beschreibt. Wenn der Kandidat vor Wähler oder Parteifreunde tritt, den Aufsteiger, die nach seinem Unfall vom Tode errettete Lichtgestalt mimen will, dann schieben sich Momente dazwischen, wo die Fassade brüchig wird. Gnadenlos geht Leinemann gegen Fassaden wie Jürgen Schmude vor — harmlos, geschichtslos, unbekannt, unter Schmidt Bildungsminister und im wesentlichen ein Mann ohne Eigenschaften. „Der Minister“, zitiert der Autor einen Diskussionsleiter einer Veranstaltung, auf deren Podium auch Jürgen Schmude sitzt, „das ist der Mann neben mir“. Das sitzt.

Ein Nichts als mitbestimmender Faktor in der Republik, eine Nullperson als Macher — so etwas nimmt Leinemann krumm. Denn der 'Spiegel‘-Mann glaubt schließlich daran, daß Personen, genauer: (Immer) Männer, genauer: Politiker Geschichte machen „und nicht Strukturen, Ideologien oder Zeitgeister“.

Leinemann schwört auf den psychologischen Blick. Er ist überzeugt davon, daß er, wenn er etwas über Genschers Kindheit (vaterlos) oder Lambsdorffs Schulerziehung (hart) herausgefunden hat, auch etwas über das politische Funktionieren dieser Republik entdeckt hat.

Aufschlußreicher und spannender als die reinen Porträts sind deshalb häufig die Reportagen, die über einen Akteur hinausweisen. Seine Reportagen aus Korschenbroich, die Beschreibung des klammheimlichen und alltäglichen Antisemitismus in der Republik ist so ein Beispiel, oder auch sein überlanger aber lesenswerter Abriß über ‘68 und die Folgen.

Daß Leinemann nicht immer „zeitlos“, „in Öl“ malt, wie der Klappentext des Buches behauptet, zeigt die Geschichte über die Befindlichkeit in der DDR von 1987. Er entdeckt, quer durch die damalige Honecker-Republik ein „strammes Selbstbewußtsein“, ein „Hochgefühl“ — im Einklang mit anderen politischen Beobachtern dieser Zeit; jedoch erscheint diese Darstellung heute so verstaubt wie alle Berichte, die älter sind als ein Jahr. Dennoch: Als subjektive Wahrheit haben Leinemanns Beobachtungen von damals Bestand, und so wird er sie wohl auch gelesen haben wollen — er hätte schließlich auch die bequeme Geschichtsklitterung betreiben, seinen jetzt verjährten Blick nach drüben außen vor lassen können. Clara Fuchs

Jürgen Leinemann, Nur nicht weiter so·Ein Wählerbuch, Zürich 1990, 504 Seiten.

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