: Genickbrüche
Thomas Strittmatters Erstlingsroman „Raabe Baikal“ ■ Von Michaela Ott
Was aber davon zu hören war und den Hörenden im Ohr bleiben würde, das war ein zartes Knacken, als das Eisen sich wuchtig zwischen zwei Nackenwirbel drängte, sie auseinandertrieb, denn es war ja ein Brecheisen, sie splittern ließ, den fettigen Strang des Rückenmarks zerrte und mit Splittern durchsetzte und so zerstörte, daß der Mann keinen Schmerz mehr spüren konnte, die Nervenbahnen waren augenblicklich durchtrennt oder blockiert, als das Eisen, Brecheisen, seinen Nacken erreicht hatte. Da mochte das letzte Gefühl des sterbenden Mannes das der Kühle des Metalls gewesen sein, ein bitterer Geschmack im Mund, dann nichts mehr, Schwarz, Schwarz-Blau und Nichts.“
Dies ist nicht der einzige Genickbruch in Thomas Strittmatters Erstlingsroman Raabe Baikal, er ist nur der letzte und einzige, der an einem Menschen geschieht. Er gehört in eine logische Folge von sachlich erzählten Genickbrüchen, die, an Tieren begangen, erklärt werden als zum Menschsein gehörende Tat: Die in Fallen gefangenen Maulwürfe mit gebrochenem Genick müssen die Internatszöglinge Raabe und Fieber lernen zu töten, da das Töten der gelähmten Tiere die „menschlichere“ Variante ist. Raabe muß in seiner Steinmetzlehrzeit lernen, Hasen Genickbrüche beizubringen, um etwas zum Essen zu haben: Das Hasentöten mit dem Klöppel ist ebenso Lektion seiner Lehr- und Wanderjahre wie das Hineintreiben des Meißels in den Stein.
Es ist, als wolle Strittmatter den Leser wie die Internatszöglinge erneut mit einer dem Leben anhaftenden Brutalität konfrontieren, die in unser auf ästhetische Distanznahme bedachten Literatur meist ausgeblendet ist: der Gewaltsamkeit einer Geburt ebenso wie der von Tierschlachtungen.
Als Lektion in Gewaltsamkeit beginnt der Roman: Die Internatsleiterin legt Wert darauf, den Schülern Anschauungsunterricht zu erteilen, sie sollen Zeugen des Kalbens im benachbarten Bauernhof sein. Daß die Kuh bei der Geburt des Kalbs jämmerlich verreckt und das Kalb nur unter heftigsten Blutstürzen zur Welt kommt, so daß die Schüler kotzen und wochenlang von dem Erlebnis Alpträume haben, hat die Lehrerin nicht gewollt. Es ist, als habe Thomas Strittmatter ebenfalls so viel Grausamkeit nicht gewollt: Das Leben entreißt ihm seine Zöglinge, die er mit liebevollen Spitznamen wie „Raabe“, „Fieber“, „das Opfer“ belegt, es führt sie durch eine Schulzeit, die eher aus Persönlichkeitsgenickbrüchen besteht, sukzessive armseligen Kleinstadtexistenzen zu.
Strittmatters unprätentiöse Sprache schmiegt sich an die klobigen Objekte des Dorflebens wie an seine grobschlächtigen Protagonisten an. Es gibt ein ganzes Arsenal Bruegelscher Figuren bei ihm, es gibt Taube und Blinde, denen Strittmatter als Ausgleich für ihre Deformation besondere Sensibilität verleiht.
Strittmatter umreißt die Schwarzwaldlandschaft, in der er aufgewachsen ist, mit harten Konturen, vieles bleibt dennoch offen, phantastisch, mysteriös: wie die Urne von Raabes angeblich in England verstorbenen Vater nie ankommt, er zuletzt eine gefälschte, mit Krokantstreusel gefüllte, erhält. Die Protagonisten gehen am Ende ins Nirgendwo, Raabe bricht über die Autobahn zu dem ersehnten „Baikalsee“ auf.
Es gibt kein Vorwärts, aber es gibt auch kein Zurück, denn sie sind bereits auf der untersten Existenzstufe angekommen: Eine Schülerin ist eine Hure geworden, Fieber ein Koch, der keine Fische töten kann, Raabe, der kein Steinmetz werden will, lebt von der Hand in den Mund. Weil sie nichts gelernt haben als „Hauen, Polieren, Schärfen, Schlachten“, geschieht der letzte Genickbruch, der die Gruppe endgültig auseinandertreibt, eher reflexartig, als Gewohnheitstat: Sie handeln ohne Bedauern, vielleicht auch weil die Umgebung, in der sie leben, vor allem aus einer Autobahn, einem Parkplatz und einem Squash-Center besteht.
„Denn sie wissen nicht, was sie tun“: Strittmatter hat das blauweißgerautete, geranienbestückte und blitzsaubere Alpenstaatimage mit seinen kurzen, harten Kapiteln ins düstere Wirkliche abschattiert.
Thomas Strittmatter: Raabe Baikal. Diogenes Verlag, gebunden, 294 Seiten, 32 D-Mark.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen