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Nicht Napoleon, sondern Goya

■ Gespräch mit dem Theaterkünstler Tadeusz Kantor, der am vergangenen Samstag 75jährig in Krakau starb

Guy Scarpetta: Polen geht zur Demokratie über, ist das deiner Meinung nach ein tiefgreifender Wandel?

Tadeusz Kantor: Für viele Künstler ganz gewiß. Für Leute, die Angst hatten, sich frei zu äußern. Das können sie nun, sagt man. Aber ich persönlich hatte nie Angst davor, niemals. Also ist da kein großer Wechsel. Natürlich muß man nuancieren. Polens neue Unabhängigkeit auf der politischen, gesellschaftlichen Ebene ist wichtig. Man kann sich die Sklaverei, in der wir lebten, im Westen gar nicht vorstellen. Selbst für uns war das schwierig. Jetzt machen die Leute den Mund auf, die Wahrheit kommt ans Licht. Man sieht, was das für eine Hölle war. Aber was mich angeht: Meine künstlerische Freiheit deckt sich nicht einfach mit der politischen oder sozialen. Fast könnte ich sagen, daß ich von Geburt an frei war. Während der deutschen Besatzung habe ich mich paradoxerweise frei gefühlt. Gewiß, es war gefährlich, lebensgefährlich. Selbst danach, während der „Diktatur des Proletariats“ habe ich mich frei gefühlt. Vielleicht ist das schwer verständlich zu machen. Man hat meine Aufführungen verboten, die Premieren gesprengt. Von 48 bis 55 habe ich quasi im Untergrund gearbeitet. Da man kaum ein unabhängiges Theater machen konnte, habe ich gemalt, allein, in meinem Winkel. 55, im „polnischen Oktober“ gab es erste Ansätze zur Liberalisierung des Systems, ein Jahr der Freiheit. Ich habe es genutzt, um das Cricot-Ensemble zu gründen. Dann fiel der Deckel erneut. Wir durften nicht aus dem Land raus und unsere Inszenierungen im Ausland zeigen.

Zum ersten Mal durften wir Polen 1970 verlassen. Zwischen 55 und 70 ist unsere Arbeit also verboten oder hintertrieben worden. Aber die offizielle Zensur hat seltsamerweise nicht eingegriffen. Die Zensoren kamen zu den Proben und sagten: „Verstehn wir nicht.“

Der politische Wandel und der neue Opportunismus

Diese Art von Verachtung gegenüber moderner, nonkonformistischer Kunst muß doch Spuren in den Köpfen hinterlassen. Ich kann mir vorstellen, daß ein politischer und sozialer Wandel nicht ausreicht, um das zu verändern.

Natürlich nicht. Es dauert bis heute an. Alle wissen, daß das Cricot-Ensemble internationale Erfolge errungen hat, sie behandeln uns trotzdem als Idioten. Der kommunistische Kulturminister hatte immer Berater, Leute aus dem künstlerischen Milieu. Wajda zum Beispiel. Sie bestimmten. Und heute tun sie so, als wären sie Oppositionelle gewesen. Wajda will, glaube ich, einen Film über Katyn drehen, dieses Massaker, das offiziell den Nazis zugeschrieben wurde und das in Wirklichkeit von der Roten Armee verübt worden war. Diesen Film hätte er vor 25 Jahren machen müssen! Heute ist das ganz und gar konformistisch.

Gibt es die Gefahr einer neuen „offiziellen Kunst“?

Die gibt es! Nach dem Verschwinden des „sozialistischen Realismus“ und seiner Dogmen habe ich mich gefragt, wie die offizielle Kunstbewegung wohl jetzt aussehen wird. Und ich glaube, daß es sich um eine spirituelle, katholische Bewegung handeln wird. Die mögen dann mit gewissen Avantgarde-Mitteln arbeiten, aber in einer akademischen, prätentiösen, dummen Art. Ich will mich nicht gegen die katholische Kirche stellen, die politisch einiges getan hat, um uns von der kommunistischen Herrschaft zu befreien. Ich bin nicht gläubig, aber die Religion ist wichtig für mich, sie ist der Kunst sehr nahe. Mir scheint die Kunst zwar über der Religion zu stehen, aber sie haben viel gemein. Wie auch immer: Es gibt eine katholische Kunstrichtung, die anfängt zu dominieren. Katholisch und patriotisch. Patriotismus hasse ich.

Ist das die Mauer, gegen die du anrennst?

Genau. Man sagt mir: Ihr seid jetzt frei. Ich sage: Nein, das betrifft mich nicht, denn schöpferisch war ich schon immer frei. Sogar im Gefängnis, wie Sartre sagte. Aber ich brauche eine Mauer, um gegen sie anzurennen. Vierzig Jahre lang war das der Kommunismus. Heute ist es die sogenannte Freiheit.

Kannst du das genauer sagen?

Von Anfang an habe ich die Kunst nicht als ein Bild vom Leben, sondern als eine Antwort auf das Leben begriffen. Der Begriff des Bilds kommt aus dem Naturalismus und Realismus — sozialistisch oder nicht. Für mich ist die Kunst eine Antwort auf die Realität.

Kunst hat keine Sorgepflicht gegenüber der Gesellschaft. Sie sollte eher ein Gift sein. Meine Antwort besteht in der Erfindung einer ganz anderen Realität als der gesellschaftlichen. Anders und autonom: das ist das Wichtigste für mich. Ich sehe, wie Theater, Kino, Literatur jetzt auf erzählerische Weise ein Bild von der Zeit des Kommunismus machen wollen. Vielleicht ist das notwendig, nach all den Lügenbildern, die uns zugemutet wurden. Aber für mich ist das nicht „Kunst“. Es ist Erzählung, und ich bin gegen Erzählung. Ich habe keine Lust, das Gefängnis, die Verbrechen, die Heiligenlegenden zu erzählen. Ich finde es viel wichtiger, eine Gegenwelt zu schaffen, die keine direkte Verbindung zu Gefängnissen und Verbrechen hat. Das Problem ist, daß die Realität, gegen die ich mich stelle, stark sein muß. Was ich gemacht habe und weitermache, wäre in Frankreich oder Italien nicht möglich.

Du erwähntest den Patriotismus. Etwas an Deiner Kunst frappiert mich: In mancher Hinsicht finde ich deine Ursprünge in streng lokalisierten Bildern wieder, das Dorf deiner Kindheit, Wielopole, eine bestimmte historische Realität und polnische Kultur. Zugleich haben sie paradoxerweise eine universelle, kosmopolitische Reichweite. Man kann es mit derselben emotionalen Intensität in Westeuropa, Lateinamerika oder Japan nachempfinden.

Tatsächlich hat man mir immer vorgeworfen, „kosmopolitisch“ zu sein, schon zu der Zeit, als solch eine Qualifizierung einem ernsthafte Scherereien machen konnte. Der Nationalismus ist auch eine Mauer, gegen die ich anrenne. Ich bin immer gegen diesen polnischen Nationalismus gewesen, selbst wenn ich seine historischen Wurzeln verstehe, das 19. Jahrhundert, die Zeiten, als Polen zerstückelt wurde und als Nation aufgehört hat zu existieren. Niemand kann seine Ursprünge tilgen, aber man muß darin universell sein. Ich sage manchmal, ich bin kein Pole, sondern Kosmopolit und Bürger von Wielopole.

„Heute ist mein Geburtstag“

Die Vorstellung, die ich gestern hier in Warschau gesehen habe, hat mich unweigerlich an Goya denken lassen. Dieselbe Art und Weise, sich einer konkreten historischen Realität zu bedienen und ihr eine universelle Tragweite zu geben, indem du sie verwandelst und sie ins Phantastische hinüberführst. Wie reagiert ein Publikum, das an den den Realismus gewöhnt ist, auf Deine Vorstellungen?

Merkwürdigerweise sehr enthusiastisch. Ich glaube nicht, daß alle die formale Seite meiner Kunst begreifen, aber die Leute begreifen meine Paradoxe. Ich bin immer „Avantgarde“, aber zugleich widersetze ich mich der Avantgarde, wenn sie ein terroristisches Dogma wird. Ich bin immer radikal, aber ich widersetze mich dem Radikalismus, wenn er orthodox wird. Ich sage, ich entscheide mich für die Realität als Gegensatz zur Illusion, aber zugleich versuche ich auch die Illusion zu bewerkstelligen. Das ist vielleicht mit etwas sehr Intimem verbunden. Wenn ich ein Stück oder ein Bild mache, versuche ich nicht die Realität vorzutäuschen, ich manipuliere das Reale, das Konkrete, das Unmittelbare — aber bei mir, im Verborgenen, fange ich an zu träumen... in meinem Bett, auf dem Klo, dort, wo man vollkommen frei ist. Es braucht diesen Faktor Traum oder Illusion, aber nicht nach Art der Surrealisten... Du wirst sehen, wie in meinem nächsten Stück die Illusion behandelt wird. Es gibt auf der Bühne einen Bilderrahmen, wie ein Chassis, und die Figuren in diesem Rahmen, die Schauspieler, sind wie Figuren auf einem Bild. Und ich, der Maler, stehe davor, versuche sie zu beherrschen. Aber kaum lasse ich locker, rächen sie sich, machen sonst was, verlassen das Bild, widersetzen sich mir .... Eine Beziehung der Gewalt ...

Das ist ein starkes Bild ...

Ich habe ein Foto wiedergefunden, auf dem man meine Mutter und meinen Vater sieht, vor dem ersten Weltkrieg. Mein Vater war schizophren, er sah überall sein zweites Ich. Manchmal, während einer Mahlzeit, sprach er zu sich selbst, als säße er sich gegenüber. Ich habe das auf der Bühne umgesetzt mit den zwei Zwillingen, die einander hinterher rennen, sich nicht kriegen. Ich habe die Figur meines Vaters zweigeteilt. Was meine Mutter anbelangt, zu dem Zeitpunkt, als das Foto gemacht wurde, war sie mit mir schwanger. Ich bin auf dem Foto anwesend, als Foetus. Das Stück wird sehr autobiografisch, ganz auf mich konzentriert. Der erste Akt spielt vor meiner Geburt. Es wird vielleicht eine Sequenz geben, die nach meinem Tod spielt. Ich habe bis jetzt bloß den ersten Akt vorbereitet, der vor dem ersten Weltkrieg endet.

Gibt es wieder dieselben rituellen Figuren wie in deinen früheren Stükken?

Manche. Aber es gibt auch neue Figuren. Das „arme Mädchen“, das von Beginn an beschworen wird. Und dann auch die Geister meiner toten Freunde. Zwei große Maler, mit denen ich befreundet war, Maria Jerema und Jonas Stern. Aber ich erwecke sie auf sarkastische Weise wieder zum Leben, ich mokiere mich ein wenig über sie. Maria Jerema war anfangs Kommunistin. Später hat sie ihre Parteikarte zerrissen. Vor dem Krieg war sie militant, sie kleidete sich wie die russischen Revolutionäre, mit einer Leninmütze. In meinem Stück wird sie zur „Kommissarin der abstrakten Revolution“, sie unterrichtet in abstrakter Malerei mit einer Pistole. Jonas Stern war ein typischer mystischer Jude, Sohn eines Rabbiners, was ihn nicht daran hinderte, Marxist zu sein, ein bedeutendes Mitglied der Partei. Das war ein enormer Konflikt bei ihm, ich werde versuchen, es auf ironische Weise umzusetzen. Ich werde alle Arten von Souvenirs benutzen, ein Fresko dieser ganzen geschichtlichen Periode, aber auf poetische Weise, wie eine Erinnerung, die nicht zu meistern ist. Alles ist auf mich zugeschnitten, wie der Titel sagt: „Heute ist mein Geburtstag“. Ich rekapituliere, ich ziehe Bilanz ...

Skandal und innere Bewegung

Im Westen stellt sich die Frage, ob die Kunst noch „widersprechen“ kann. Ob die gesellschaftlichen Machtstrukturen nicht alle Kunstformen, selbst die ganz radikalen und nihilistischen einfach in sich aufgesogen haben. Der „Skandal“, den man sich zur Zeit von DaDa noch ausdenken konnte, ist nicht mehr möglich.

Darüber mache ich mir große Sorgen. Ich frage mich zum Beispiel, warum die Inszenierungen des Cricot-Ensembles so freundlich aufgenommen werden. Es gab eine Zeit, wo meine Werke Skandal machten, allerdings wegen der ungewöhnlichen Form. Heute hat sich das Publikum an alles gewöhnt, es ist von vornherein einverstanden und kalkuliert es ein. Manchmal suche ich eine Sphäre des Verbotenen, aber finde nichts. Ich habe den Skandal sehr geliebt. Zugleich habe ich gemerkt, daß es allein nicht ausreicht. Am Wichtigsten ist mir, daß das Publikum innerlich überwältigt ist. Bewegt. Nicht nur im ästhetischen Sinne. Auf diese tiefe innere Bewegung muß man wohl noch mehr zielen als auf den Skandal.

Beschuldigt man dich nicht trotz allem der Bilderstürmerei? Wenn ich bedenke, daß du zwei Kardinäle in roten Roben Tango tanzen läßt. Oder daß der für die Polen mythische General Pilsudski auf einer Schindmähre, einem wahren Skelett angeritten kommt. Da ist niemand schockiert in diesem Klima von Katholizismus und Nationalismus?

Doch! Man nennt mich einen Feind der Religion und vaterlandslosen Gesellen. Da man mir nicht vorwerfen kann, daß ich mit den Kommunisten kollaboriert habe, ist das alles, was sie gefunden haben. Ein Künstler ist immer in Opposition. Zum Beispiel die Rehabilitierung der ehemaligen Dissidenten. Natürlich bin ich dafür. Aber als Künstler gehe ich auf Distanz. Man macht sie zu Heiligen, das ist gefährlich. Ich war nie ein politischer Dissident. Mir ist diese Verehrung fremd. Soziale und politische Freiheit sind mir wichtig, aber nicht so wichtig wie die wirkliche Freiheit, die totale: die Freiheit der Kunst.

Eine ähnliche Mythologisierung gibt es um die Emigration. Die Emigranten werden zu Helden, die Wiederkehrer sind in Mode. Auch das ist mir fremd. Ich bin nicht emigriert. Ich brauchte die Mauer, um gegen sie anzurennen. Ich weigere mich, darin irgendeine Schuld zu sehen. Auch ich war Oppositioneller und Widerständler, aber im künstlerischen Sinn.

Auch um den Underground bilden sich Mythen. Als Polen von den Deutschen besetzt war, habe ich im Untergrund gearbeitet, aber doch nicht um engagiertes Theater zu machen. Sondern um den Weg von DaDa, Konstruktivismus und Bauhaus weiterzugehen.

Kurz: Ich glaube, es entstehen jetzt ein paar neue politische Werte. Es sind nicht mehr die des Kommunismus, aber man stellt nach wie vor die Politik über alles andere. Zum Schaden der Kunst. Wenn ich mich gegen die Macht gestellt habe, dann nicht aus unmittelbar politischen Gründen, sondern weil ich eine andere als die herrschende Wirklichkeit schaffen wollte. Es gibt eine höchste Freiheit, die von der Kunst gefordert wird, und die nicht ineinsfällt mit der politisch gewährten Freiheit. Auch nach dem politischen und gesellschaftlichen Wandel wird Kunst als überflüssig betrachtet. Dagegen werde ich mich immer stellen.

Das scheint mir auch wesentlich im Hinblick auf das neue Europa. Die Frage ist, ob wir nur ein Europa der Waren und eine politische Allianz bekommen oder wirklich eine europäische Kultur. Ein Europa, das diese Frage vernachlässigt, rennt in die Katastrophe.

Garantiert! Europa ist für mich das Europa der zwanziger Jahre, als Corbusier von Paris nach Moskau, Malewitsch von Moskau nach Berlin, Schönberg von Wien nach Berlin und Tzara von Zürich nach Paris gingen. Derartige Kreisläufe sehe ich im Moment nicht. Europa ist nur durch die Kunst zu Europa geworden. Und die Kunst darf sich per definitionem keiner politischen Sache verschreiben, auch der besten nicht. Nicht Napoleon hat Europa gemacht, sondern Goya.

Wir entnahmen dieses Gespräch der französischen Zeitschrift „La Règle du Jeu“, die von Bernard-Henri Lévy im Verlag Grasset herausgegeben wird. Das Interview fand im Februar 1990 in Warschau statt.

Übersetzung: Sabine Seifert/ Thierry Chervel

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