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Postmoderne jetzt auch im Kochtopf!

■ Politisch brisantes Stümpertum in Küche und Kochstraße — ein neues Buch für den praktischen Theorieberliner

Gutes Essen gilt spätestens seit Brecht und Rolf Schwendter als revolutionär, und seit Wagenbachs Schlaraffenland (nicht 1968, sondern 1975) als kollektivbildend. Um so mehr horchen wir auf, wenn jetzt das Rezept und seine Praxis von der alles ansteckenden »Postmoderne« vereinnahmt werden. Dies ist im vorliegenden, jüngst erschienenen Kochbuch für Stümper der Fall. Aber vorerst keine Angst: die Dialektik holt sie alle wieder ein — auch in der Küche.

Was will der Koch-Laie (d.h. Stümper)?: »nicht machen und lernen, sondern haben und können«. Rezeptbeispiel »In the Dessert«: 1 Pckch. Dr. Reuters »Götterspeise« mit Zitronenschmackes / 1 Dose Mandarinen / 1 Glas Federweißer oder Weißwein / weißer Rum / 10 Gummibärchen / Kondensmilch. Anweisung: Alles bis auf Milch und Götterspeise im Mixer »emulgieren«, dann erhitzen und in einer Schale mit der G-Speise »vermengen«. Den »Glibber« in zwei Tassen: »Schnell noch Kondensmilch einträufeln, bis ein schöner Marmorierungseffekt erreicht ist.« Kalt werden lassen, fertig. Allein die Dosenmilch wirkt schon faszinierend. Daß dabei dem Ökofreak die Gänsehaut kommt und der Sadomaso ein schäbiges Kichern nicht an sich halten kann, ist beabsichtigt. Teller-Titel wie Rückspiegeleier, Glatteisbein und Mousse au Nutella lassen Das kalte Grausen durchgängig ahnen. Schaudernd nehmen wir das »wach- skeptische« Lob der Dose zur Kenntnis. Womöglich schmeckt das Zeugs sogar, das können wir von dieser Stelle aus nicht ausschließen. Hand aufs Herz: Wer hat schon Konservenfeige, genossen?

Für eine kritische Zeitung, die in der Kochstraße wohnt, gehört sich nun auch noch eine gesalzene Kritik. Zunächst ist der fehlende wissenschaftliche Apparat zu beklagen: kein Kochbuch ohne Findehilfe! Dann trieft der Text von Metaphernsuff und verkochten Kalauern. Kein Wunder bei soviel »Leberknallern« im Kochgut. Lachen ist allerdings durchaus möglich, sagen wir zu zehn Prozent. Das macht gegenüber dem herkömmlichen Kochbuch und der gängigen Humorlage alternativen Werkens viel. Die Zeichnungen von Brösel sind Geschmackssache — siehe auch unter Leberknaller. Hervorragend die »Warenkunde«. Wer noch klärt derart und gründlich über Cenovis »Bierhefe Extrakt« und Vitam-R »Hefe-Extrakt« ebenso auf wie über die — schon historischen — Suppina VEB Nahrungsmittelwerke »Tempoerbsen, nach einem besonderen Verfahren behandelt«? Aber: Auf 160 Seiten Kochbuch nur runde 70 Rezepte? Und welch Vergnügen mag wohl einen Autor treiben, bei dem es auf jeder zweiten Seite schmurgelt, brennt, rußt etc.?

Nun aber an die Hauptsache, nämlich die gekochte Weltanschauung. Das Problem ist klar erkannt: »Was tun? Rohes will schließlich in Gekochtes umgearbeitet sein.« Jetzt geht es nur noch darum, den Geist ins Reale zu tragen: »Jedes einzelne Rezept aus dem Rezeptteil ist jedenfalls stabiles Fundament einer ganzen Weltanschauung.« Welcher denn? »Alles ist Absicht. Wenn's nicht so wird, wie es werden sollte, sollte es so werden, wie es wurde.« »Im Zweifel ist immer das Unerwartete das Richtige.« Das ist nun ganz klar Derrida im Kochtopf. Und weil uns Heutigen die »Postmoderne« immer noch so fremd ist, begreifen wir nun die vorweggeschickte ausführliche »Pfuscherschulung«. Jedoch! Und anders! Wie verträgt sich dies mit der ganz klar aufklärerisch beeinflußten »Geradeaus-Küche mit eindeutigem Geschmack«? Wie mit der Verdammung der Mikrowelle? Der Definition des Stümpers als »Freund tabusprengender Experimente im Erlebnisraum Küche« und seinem »gefundenen Fressen für kulinarische Freigeister«? Wie mit der Distanzierung von Freß-Schickeria, »kulinarischer Sensation« und »Geltungskonsum«? Gleichzeitig aber ausschweifender Qualitätsschulung in Sachen Kaviar, Lachs, Austern, Hummer, Trüffel... Das sieht ja ganz nach Grandhotel Abgrund aus!

Sehr wohl: Hier liegt ein heimischer Konflikt zwischen Postmoderner und Kritischer Theorie des Kochtopfs offen zutage. Das macht ja auch nichts. Wer kann sich schon zwischen der Trauerarbeit um den verlorenen Geschmack (Beispiel: die Holland-Tomate oder der Tschernobyl-Pilz) und dem fröhlichen Positivismus des Dennoch- Kochs entscheiden? Gekocht werden muß ganz klar. Damit wir aber auch nach der falsch montierten Wahlsauce noch ins Jahr 2000 zu blicken uns in die Lage versetzen, zum Schluß eine ungefähre Eingrenzung der Zielgruppe, die dieses Büchlein bestens nutzen könnten: MitarbeiterInnen des Altamira-Verlages; Wohngemeinschaftsbewohner unter 30 und ohne Kinder (Ausnahme: das Rezept für den zu dekonstruierenden Negerkuß auf dem Nutella-Mus); Kochende; SED-Funktionäre, die immer schon mal wissen wollten, ob's mit der Dekadenz im Westen wirklich so schlimm ist; Werner- Fans, d.h. sog. Bölkstoff- und Benzinsäufer; Besucher des Europa- Centers in Berlin, die ein Schmankerl »Deutschland« mitnehmen wollen; Wissenschaftler. Letztere Berufsgruppe, der ich entsproß (Keimling! man gibt es nunmehr offen zu!) dürften sich vor allem für diesen Beleg einer Archäologie der Koch-Moderne interessieren: »Am Ausgang des 20. Jahrhunderts sind Stümper keine Deppen, Penner oder Simpel, sondern heitere Dilettanten im ursprünglichen Sinn des Wortes — also Liebhaber.« Dr. Reuter

Thomas Platt: Kochbuch für Stümper , Berlin 1990, Altamira Verlag.

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