Gesundheitspolitische Mauer an der Elbe

■ Gespräch mit Herwig Schirmer, dem Geschäftsführer der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK)

taz: Die Zuständigkeit der AOK Berlin wird sich ab dem 1.Januar auf ganz Berlin ausdehnen, der für das nächste Jahr im Einigungsvertrag festgeschriebene Krankenkassenbeitragssatz beträgt dann für alle BerlinerInnen 12,8 Prozent. Allerdings — die Grundlöhne liegen im Ostteil der Stadt wesentlich niedriger, hinzu kommt der dort voraussichtlich steigende Anteil an Arbeitslosen. Diese Klientel wird sich eine Ersatzkasse oder gar eine Privatversicherung nicht leisten können und somit von der staatlichen direkt in die AOK übernommen. Wird durch diese Regelung im Einigungsvertrag der Ruf der AOK als »Kasse der Armen« nicht erst recht zementiert?

Herwig Schirmer: Die Erstreckungslösung führt allerdings dazu, daß wir als einheitliche Körperschaft des öffentlichen Rechts zwei Haushalte haben: einen im Osten und einen im Westen. Der Beitragssatz von 12,8 Prozent ist ein heikler Punkt. Denn drüben ist nicht nur die AOK tätig, sondern die anderen Konkurrenzkassen auch. Wir aber sind die einzige Kasse, die ohne Auslese alle aufnimmt und deshalb als Basiskasse überall da sein müssen, wo andere nicht hingehen. Insofern ist die Gefahr groß, daß in der Tat die Versichertenstruktur für die AOK finanzpolitisch schwieriger ist als für andere Kassen. Der Einigungsvertrag hat dazu eigentlich keine Lösungen gebracht, sondern das Finanzierungsproblem zunächst offengelassen. Wenn nun die Einnahmen nur aus den niedrigen Grundlöhnen fließen, dann ist es finanzpolitisch sehr schwierig. Denn auf der Ausgabenseite werden wir in Ost-Berlin sehr schnell Westberliner Niveau erreichen, der Ostberliner Arzt zahlt selbstverständlich heute für Praxiseinrichtungen westdeutsche Preise. Das Problem der Inkongruenz von Einnahmen und Ausgaben wird sich im Laufe des nächsten Jahres sehr deutlich zeigen.

Gibt es eine Anschubfinanzierung, oder muß die AOK demnächst Schulden machen?

Der Einigungsvertrag enthält diesbezüglich keine Lösung. Es wird lediglich für zulässig gehalten, daß wir zur vorübergehenden Deckung einer Liquiditätskrise Mittel aufnehmen dürfen — allerdings nur dann, wenn wir keine strukturellen Defizite machen, wenn also erkennbar ist, daß die Einnahmen langfristig die Ausgaben nicht decken. Wir haben lediglich zusammen mit dem Bundesverband eine Anschubfinanzierung sichern können: Die Sozialversicherung der alten DDR hört praktisch zum 31.12. auf, und deren Einnahmen für Dezember sollen bereits den Ortskrankenkassen zufließen, damit diese in der Lage sind, Anfang Januar Abschlagszahlungen an die Leistungserbringer — Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser etc. — zu zahlen. Das bedeutet allerdings auch, daß wir innerhalb von ganz kurzer Zeit den Auftrag bekommen haben, sämtliche offenstehenden Forderungen der alten Sozialversicherung an die Versicherungsnehmer als AOK einzuziehen.

Wie hoch werden allein in Berlin die Kosten sein?

Wir rechnen drüben mit einem Haushaltsvolumen von 1,5 Milliarden in der Startsituation. Bei einem solchen Volumen sind die dreißig Millionen, die wir am Anfang des Jahres in der Tasche haben, natürlich extrem wenig.

Wird unter den gegebenen Voraussetzungen nicht ein Ziel des Einigungsvertrages — nämlich daß sich Ärzte niederlassen können und sollen — verfehlt?

Leider ist es so, daß sich diese Frage nicht an dem ersten Ziel der Versorgungssicherheit orientiert hat. Man hat statt dessen große Fronten aufgemacht, hier Polikliniken und Ambulatorien, dort Niederlassungen. Ich persönlich finde, daß man in dieser Übergangsphase ein ganz pragmatisches Nebeneinander haben muß. Durch die Übereinkunft mit der Kassenärztlichen Vereinigung über einen Punktwert, der für hiesige Verhältnisse ungefähr bei 70 Prozent liegt, besteht eine Chance, daß der niedergelassene Arzt in seine Arbeit hineinfindet.

Besteht nicht dennoch die Gefahr, daß sowohl die niedergelassenen Ärzte, Ambulatorien, Polikliniken und Krankenhäuser ihre Angebote auf Dauer nicht mehr aufrechterhalten können? Ist nicht die Gesundheitsversorgung unter diesen Umständen gefährdet?

Ich betrachte die Gesundheitsversorgung in Ost-Berlin als eindeutig nicht gefährdet. Solche Probleme sehe ich in anderen Regionen der DDR, die praktisch gemieden werden, vor allem in den altindustriellen Gebieten.

Der Einigungsvertrag sieht ja vor, daß man im Notfall auch ohne Zuzahlung im Westen behandelt wird und auch dann — dieser Fall ist komplizierter —, wenn eine entsprechende Behandlung im Osten nicht möglich ist. Das aber ist nicht näher definiert und könnte finanzpolitisch verheerend sein. Und wenn die Löhne im Osten zudem nur 35 Prozent der Westlöhne betragen, sieht es für die Honorierung der Leistungsträger schlecht aus — das ist der Teufelskreis.

Wäre es nicht angebracht gewesen, aus den Polikliniken ein effizientes Modell zu entwickeln, das in einer Konkurrenzsituation zu den niedergelassenen Ärzten steht und somit zur Kostendämpfung beitragen könnte?

Die AOK hat sich sehr für die Versorgungssicherheit engagiert und dazu beigetragen, daß nicht von Anfang an eine Vernichtungspolitik eingeleitet wurde. Größere Gemeinschaftspraxen könnten sich ja aus den Ambulatorien entwickeln. Öffentliche Trägerschaften halte ich jedoch für problematisch, auch in der Frage des Wettbewerbs. Ich könnte mir da aber auch privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen vorstellen, wenn auch in begrenzter Form.

Im Bereich der stationären Versorgung kommt der Westteil der Stadt mit rund 60 Vertragskrankenhäusern auf eine Bettendichte von 9,1 pro 1.000 Einwohner, im Ostteil bei 28 Krankenhäusern auf eine Bettendichte von 11,1 pro 1.000 Einwohner. Muß aus Ihrer Sicht deshalb bei der bevorstehenden Gesamtberliner Krankenhausplanung der Bettenabbau im Vordergrund stehen?

Es gibt das Problem der Überversorgung an High-Tech-Krankenhausbetten. Nach meinem Dafürhalten müssen wir jetzt erreichen, daß wir eine Planung auf die Beine stellen, wo das Normalmaß von High- Tech-Versorgung und Grundversorgung wieder hergestellt wird. Wir müssen drüben vorwiegend eine exzellente Grundversorgung erzeugen. Wir sind aber jetzt ein regionales Versorgungsgebiet und müssen mit einem beachtlichen Patientenanteil von außen rechnen. Wenn die vorhandenen Betten von diesen Menschen genutzt werden, könnte das für die Kassen eine durchaus entlastende Wirkung haben.

Wir müssen verhindern, daß im Umland lauter Krankenhäuser gebaut werden. Denn dann findet in der Tat wieder eine Fehlentwicklung statt.

In den Ostberliner Krankenhäusern stehen nun auch Pflegesatzverhandlungen an. Liegen bislang denn überhaupt strukturelle oder vertragliche Grundlagenerkenntnisse vor, die Vergleiche mit westlichen Kliniken zulassen?

Ein großes Problem. Wir haben in dieser Woche mit vorbereitenden Gesprächen begonnen. Für Häuser, die über Jahrzehnte hinweg keine Rechenschaft abgeben, Kostenstrukturen nachweisen mußten, ist das natürlich wahnsinnig schwierig, jetzt ein pflegesatzfähiges Instrumentarium an den Tag zu legen. Wir gehen aber davon aus, daß wir nicht zu exakten Pflegesätzen kommen, sondern nur zu einer verfeinerten Form der Abschlagszahlung.

Schon unter den jetzigen Bedingungen, bei einem Beitragssatz von 12,8 Prozent, wird die AOK nicht kostendeckend arbeiten können. Wie ließe sich das überhaupt ändern?

Man hat gesundheits- und finanzpolitisch an der Elbe und durch Berlin hindurch eine Mauer gezogen und festgelegt, daß der Finanzausgleich in der Krankenversicherung der Rentner in dem West- und in dem Ostkreis getrennt vollzogen wird. Der Finanzausgleich findet also getrennt unter Armen und unter Reichen statt. Wenn wenigstens die Kosten, die die Kranken und die Rentner verursachen, über die gesamte vereinigte Bundesrepublik ausgeglichen würden, wäre ein erheblicher Teil der Gesamtkosten eingefahren. Interview: Martina Habersetzer