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In Haiti steht die Demokratie noch auf der Kippe

Bei den ersten Präsidentschaftswahlen seit 187 Jahren hat Pater Aristide beste Chancen/ Duvalieristen kontrollieren zwar nach wie vor Staatsapparat und Streitkräfte, sind aber von der Kandidatur ausgeschlossen/ Angst vor Gewalttaten  ■ Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard

„Haiti hat zwei Optionen“, schreibt die progressive Wochenschrift 'Balance‘ in ihrer jüngsten Nummer, „Wahlen oder Revolution.“ Mit anderen Worten: Wenn die Hoffnungen der Bevölkerungsmehrheit auf einen Wahlsieg des populären Jean- Bertrand Aristide enttäuscht werden, dann ist die soziale Eruption nicht zu verhindern. Denn in Haiti ging es diesen Sonntag um weit mehr als die Wahl eines Präsidenten, einer Abgeordnetenkammer mit 83 Mitgliedern, eines 27köpfigen Senats und der Kommunalverwaltungen.

Es geht darum, ob die alten Strukturen, die den Sturz von Jean-Claude Duvalier vor fast fünf Jahren unbeschadet überdauert haben, endlich gebrochen werden können. Wenn diese Wahlen nicht gelingen, so meint auch Reinhart Helmke, der als Vertreter der Vereinten Nationen den ganzen Prozeß eingefädelt und beraten hat, „dann ist ein Bürgerkrieg unvermeidlich“. Eine „Revolution“ stellen diese Wahlen schon jetzt dar. Erstmals in der Geschichte des Landes haben die Militärs keinen Kandidaten. Und seit dem Abgang von Oberst Prosper Avril im März verlieren die Militärs ein Rückzugsgefecht nach dem anderen.

Die Chance für einen demokratischen Übergang nach dem Sturz Duvaliers hat die Armee boykottiert. Die Duvalieristen kontrollieren nach wie vor den Staatsapparat und die Streitkräfte. Kein einziger der Anführer der sogenannten Tonton Macoutes, der gefürchteten Miliz der Duvaliers, ist je vor Gericht gestellt worden. Mitte des Jahres sind sogar Oberst William Regala, der das Massaker während der Wahlen 1987 zu verantworten hat, und Roger Lafontant, der ehemalige Innenminister Duvaliers, aus dem Exil zurückgekehrt.

Gegen Lafontant liegt zwar ein Haftbefehl vor, doch keiner kümmert sich darum. Der enge Vertraute des gestürzten Diktators „Baby Doc“ hat seine alten Untergebenen, die lokalen Chefs der Tonton Macoutes, um sich geschart und ist entschlossen, einen Wahlsieg Aristides zu verhindern. Er hat zum Boykott aufgerufen. Denn der aus unabhängigen Persönlichkeiten zusammengesetzte Provisorische Wahlrat hat Lafontants Kandidatur zurückgewiesen. Die Verfassung von 1987 schließt die Funktionäre der Diktatur für zehn Jahre von der Bewerbung um öffentliche Ämter aus. „Ich bin Macoute und stolz darauf“, erklärt der stämmige Politiker jedem, der ihn in seinem kasernenartigen Parteilokal aufsucht. Obwohl Lafontant beschwört, daß er nur mit friedlichen Mitteln kämpfen will, zweifelt kaum jemand daran, daß er hinter dem Granatenanschlag auf eine Wahlversammlung Aristides steckt, bei der am 5. Dezember sieben Menschen getötet und weitere verstümmelt wurden. Der Justizminister will Beweise haben, daß Lafontant und der ebenfalls von der Kandidatur ausgeschlossene Expräsident Leslie Manigat das Verbrechen in Auftrag gegeben haben.

Die von Macoutes verübten Gewaltakte, die im November 1987 zum Abbruch der Wahlen führten, haben die Übergangspräsidentin Ertha Pascal-Trouillot dazu bewogen, die Vereinten Nationen nicht nur um technische Hilfe, sondern auch um die Entsendung von Beobachtern anzurufen. Die einzige Art, die rechtsextremen Gegner demokratischer Veränderungen von neuen Massakern abzuhalten, sei die Überflutung des Landes mit Beobachtern, meint auch ein europäischer Diplomat. Über 250 Beobachter der UNO plus Kontingente der Organisation Amerikanischer Staaten und des karibischen Wirtschaftsbundes CARICOM, die Gruppe von Expräsidenten unter Vorsitz von Jimmy Carter, politische Parteien und Kirchendelegationen schwärmten am Sonntag aus, um auch im entlegensten Winkel den Wahlkommissionen über die Schultern zu schauen.

Haiti, lange schon das ärmste Land des Kontinents, ist seit dem Abgang der Duvaliers noch deutlich mehr heruntergekommen. Die besseren Hotels berechnen ihren Gästen einen täglichen Energieaufschlag dafür, daß sie ihnen die oft stundenlangen Stromausfälle ersparen. Die meisten Haushalte haben sowieso keinen Anschluß ans Stromnetz. Im August gab es tagelang kein Benzin, denn die Ölrechnung verschlingt fast die Hälfte der Deviseneinahmen aus dem Export. Drei von vier Kindern leiden an Unterernährung, und die häufigste Todesursache sind Durchfallerkrankungen — eine Folge der unvorstellbaren hygienischen Bedingungen, unter denen 80 Prozent der Bevölkerung leben. Jährlich gehen 6.000 Hektar fruchtbaren Ackerlandes verloren, und die Abholzung der spärlichen Forstreserven schreitet so schnell voran, daß in zwanzig Jahren kein Wald mehr übrig sein wird. 50.000 Haitianer ziehen es daher jedes Jahr vor, ihr Glück in den USA oder Kanada zu suchen.

Dennoch hatten sich 26 Kandidaten in den Kopf gesetzt, dieses kaputte Land zu regieren. Dem Provisorischen Wahlrat gelang es immerhin, die Anzahl der Bewerber auf elf zu reduzieren. Davon hat außer Aristide und dem ehemaligen Weltbankfunktionär Marc Bazin kaum einer Chancen, in die für Januar anberaumte Stichwahl aufzusteigen.

Marc Bazin, Favorit der US-Botschaft, der sich mit dem Sozialisten Serge Gilles zu einer Allianz zusammengeschlossen hat, hätte mit Sicherheit gewonnen, wenn nicht der charismatische Pater Aristide in letzter Minute von seinen Anhängern zur Kandidatur geradezu gezwungen worden wäre. Bazins Allianz wird aller Voraussicht nach die Mehrheit in beiden Parlamentskammern erobern. Daher würde auch ein siegreicher Aristide um einen Kompromiß mit dem Banker nicht herumkommen. Aristides Gegner und viele unabhängige Beobachter glauben, daß der Volksliebling, von den Massen auf seinen Veranstaltungen geblendet, seine eigene Stärke überschätzt. Ihm könnte also eine ähnliche Enttäuschung bevorstehen wie den Sandinisten in Nicaragua.

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