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»Ohne Visumfreiheit müssen wir schließen«

■ Die Ex- und Importgeschäfte in der Kantstraße wittern Morgenluft, wenn die polnische Kundschaft wieder da ist/ Polnischer Sozialrat will eine Verbraucher- und Marktberatung auf die Beine stellen/ Auch »Condomi« erwartet großen Käuferandrang

Charlottenburg. Die Zeiten sind gefährlich ruhig. Anstatt Kundschaft zu beraten, hält Milica Jovanovic Zwiegespräche mit ihrer Kollegin oder ihrem Hund, kocht Kaffee und sortiert ab und an die Kartons mit den Autoradios. Statt der Polen verlieren sich seit ein paar Wochen Russen im Laden, »aber die haben ja kein Geld«.

Seit die Kantstraße zur Einkaufsmeile für die Reisegruppen aus Warschau, Posnan oder Wrocwlaw geworden ist, üben sich Inhaber und Angestellte des ehemaligen Geschenkartikelgeschäfts »Chou Chou« in Überlebensstrategien. Porzellansets, Ledertäschchen oder die Kaffeetasse mit der ganz persönlichen Note zu verkaufen, hat mehr Spaß gemacht, sagt Milica. Doch im März dieses Jahres stand man vor der Wahl, entweder zuzumachen oder dem Diktat der Nachfrage zu gehorchen. Nippes, Portemonnaies und all die anderen Artikel verschwanden im Keller, Kartons mit Billig-HiFi wurden in die Regale gepackt, der Kunde war wieder König, kam in Massen und sprach polnisch. Milicas Auskommen — und das ihres Chefs — schien fürs erste gesichert. Dann wurde im Zuge der deutschen Einigung die Visumpflicht für Polen auch auf Berlin ausgedehnt. Seitdem herrscht Friedhofsruhe in den Läden. »Einen Monat hatten wir sogar geschlossen«, sagt Milica. Jetzt sitzen sie an den Kassen zwischen Zoo und Amtsgericht und hoffen — auf die Polen. »Ohne Visumfreiheit müssen wir schließen.«

CDU-Politiker, allen voran CDU-Generalsekretär Landowsky, haben bereits das Bild von »hunderttausend Einkaufstouristen pro Woche, unhaltbaren hygienischen Verhältnissen, Schwarzarbeit und Schwarzhandel und steigende Kriminalität« beschworen. Milica zuckt gelassen mit den Schultern. »Die Deutschen«, sagt sie, »brauchen nicht so viel Angst zu haben. Viele Polen werden nach Westdeutschland weiterfahren, weil die Ware da weniger kostet. Die fahren sogar nach Indien, wenn das Einkaufen da billiger ist.« Milica ist übrigens Jugoslawin, und reagiert ein bißchen gereizt, wenn man sie für eine Polin hält. Im übrigen sei der Umgang mit dem erwarteten Käuferansturm eine Frage der professionellen Vorbereitung. In ihrem Geschäft sorge man für genügend Mülleimer und weise die Kunden darauf hin, daß Fernsehkartons und Bierbüchsen nichts auf der Straße zu suchen haben. Extrem verschlossen gab man sich dagegen bei der Aldi-Einkauf-GmbH, deren Kundenschlangen vor den Filialen ebenso wie die Umsatzsteigerungen vor Monaten noch Schlagzeilen machten. Nein, in Frankfurt/Oder gebe es noch keine Filiale, wohl aber in Ludwigsfelde und Seelow, »und vorbereiten kann man sich auf den neuen Kundenansturm nicht«, erklärte kurz und knapp ein Sprecher der Billigmarktkette.

Auch bei »Condomi«, Berlins einzigem Fachgeschäft für Gummis aller Farben, Geschmacksrichtungen und Formen, rechnet man mit Kundenzuwachs nach dem Wegfall der Visumpflicht. Die ersten polnischen Kunden, berichtet Martin, der Verkäufer, seien angesichts des breit gefächerten Angebots »etwas desorientiert gewesen«. Ein paar ganz Gelehrige in Sachen Marktwirtschaft hatten den Laden anfangs für einen Pornoshop gehalten und die passenden Videos zum Verkauf angeboten. Die durchschnittliche Kundschaft aus Polen ist fast vorwiegend männlichen Geschlechts und kauft vorwiegend Kondome in ausgefallenen Formen. »Da gibt's wohl Nachholbedarf«, glaubt Martin.

Ob sie nun wirklich kommt, die Visumfreiheit, ist für Witold Kaminski vom »Polnischen Sozialrat« noch lange nicht entschieden. Zwar hat der Bundesrat mit der Stimme des Noch-Regierenden Momper (SPD) der Aufhebung der Visumpflicht zugestimmt, aber noch steht die Zustimmung auf europäischer Ebene aus. Seit Unterzeichnung des Schengener Abkommens, das den grenzfreien Verkehr zwischen Deutschland, Frankreich und den Beneluxstaaten regeln soll, haben auch die Vertragspartner bei der Bonner Visumpolitik ein Wörtchen mitzureden. Sollte Bonn die Nachbarn in Zukunft wieder ungehindert einreisen lassen, »dann werden die Polen natürlich wiederkommen und einkaufen«. Ein bißchen professioneller als beim letzten Mal sollte sich die Hauptstadt nach Ansicht Kaminskis schon verhalten. Statt Abschreckung will Kaminski eine Verbraucherpolitik forcieren. Eine Berliner Informationsstelle, so die Pläne des »Polnischen Sozialrats«, könnte den polnischen Kunden nicht nur ein paar Verhaltensregeln und wertvolle Tips über vernünftiges und preiswertes Einkaufen vermitteln, sondern auch Kontakte für polnische Gewerbetreibende herstellen. Die müssen dann nicht in die Kaufhäuser gehen, um die dringend benötigten Waren und Rohstoffe zu bekommen, sondern könnten gleich an den Großhandel vermittelt werden.

Davon würden auch die polnischen Kunden profitieren, die sich vor einigen Monaten bei »Condomi« als Großhändler ausgaben und gleich kartonweise Gummis einkaufen wollten. »Die Leute«, sagt der Verkäufer, »müssen wir an die großen Firmen verweisen. Wir sind schließlich auch nur Einzelhandel.« Andrea Böhm

Siehe auch Kommentar Seite 21

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