: Der neue Diktator
■ Polemik des russischen Historikers Jurij Afanasjew gegen Gorbatschow DOKUMENTATION
Am Donnerstag letzter Woche hielt Afanasjew vor der „überregionalen Deputiertengruppe“ die Rede, die wir in Auszügen dokumentieren. Der Autor ist selbst Deputierter, zählt zur radikaldemokratischen Opposition im Volksdeputiertenkongreß bzw. Obersten Sowjet.
Vom Oktober bis in den Dezember kam es in der Sowjetunion zu Ereignissen, die von einem wesentlichen Wandel der politischen Situation zeugen. Darin drücken sich Verschiebungen aus, die schon sehr viel früher vor sich gingen, nämlich im Frühling und Sommer 1989, auf und nach dem ersten Kongreß der Volksdeputierten. Damals begann sich die eigentliche Intention der Perestroika zu verwirklichen, und heute erreicht sie ihre Vollendung... Aber von welchen Ereignissen ist die Rede?
Vor allem von den Gerüchten über eine geplante Verschwörung der Demokraten und von der Drohung damit. Ich meine zum Beispiel den Artikel Verfaulte Kartoffeln des Korrespondenten Petrunja in der 'Prawda‘ (in dem behauptet wurde, daß die demokratischen Kräfte absichtlich Lebensmittel verderben ließen, um den sozialen Konflikt im Lande anzuheizen — Anm.d.Übers.)... Zweitens die Truppenverlegungen um Moskau vor den Novemberfeierlichkeiten, die allseits schon ausführlich gewürdigt worden sind. Dann die Entscheidung des Präsidenten gegen den Schatalin-Plan um der Rettung der Regierung Ryschkow willen, außerdem der Befehls- und Anordnungskrieg, der von den Präsidien der Obersten Sowjets einiger Republiken und vom Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR ausging — sowie die Zuspitzung des Gegensatzes Gorbatschow-Jelzin... Es ist wichtig, von Anfang an den gemeinsamen Sinn dieser Ereignisse, ihre gemeinsame Richtung, ihr Wesen zu definieren. Und dieses besteht meiner Ansicht nach darin, daß allmählich eine Diktatur Gorbatschows errichtet wird...
Unsere Periode ist dabei nicht einfach irgendeine weitere Etappe: in ihr artet der Autoritarismus in eine „Einpersonendiktatur nach sowjetischer Manier“ aus, das heißt in einen bürokratischen Bonapartismus, der sich auf die reaktionären Kräfte eines verendenden Regimes stützt. Dies sind: erstens die „Partokratie“ einschließlich des KGB, zweitens die Militärindustrie und drittens die Generäle. Man muß dazusagen, daß es sich dabei keineswegs um elitäre Elemente handelt, sondern daß sie ihre eigene soziale Basis haben... Es geht ihnen darum, die Grundfesten dieses zerfallenden Regimes zu retten, und deren Klammern: erstens den imperialistischen Einheitsstaat, zweitens die sozialistische Utopie als Ideologie und drittens das Staatseigentum an Produktionsmitteln und Grund und Boden und Finanzen. Der Versuch, dies alles aus der Krise herauszuführen und dabei doch die Grundfesten des Regimes zu wahren, hat den Namen „Perestroika“ erhalten... Jeder weitere Schritt hätte schon nicht mehr der „Perestroika“ des Systems gedient, sondern seiner Demontage nach osteuropäischem Vorbild. Zu letzterem haben sich Gorbatschow und die ihm nahestehenden Kräfte als unfähig erwiesen, und es wäre auch naiv gewesen, dies von ihnen zu erwarten.
Ebenso wie unsere Bewegung hatte auch die Perestroika einen Anlaß: in ihrem Falle den Umstand, daß das militärische Wettrennen mit dem Westen verloren war. Daraus folgte die Notwendigkeit, einige Sektoren dieses Regimes zu modernisieren... Daher kommt es, daß sich die Inszenierungen Gorbatschows in unseren Tagen gegen alles Lebensfähige und alle perspektivträchtigen Projekte richten. Hier liegt der eigentliche Grund für die Destabilisierung und für das Anheizen der Spannungen in unserer Gesellschaft. Das sind die allgemeinen politischen Umrisse der Zeichnung, die auf unseren Basaren entstanden ist. Und nun einige Details aus diesem Bild.
Erstens, die Errichtung der Diktatur: Im März dieses Jahres billigten zuerst ein ZK-Plenum und dann ein Kongreß der Volksdeputierten eine Vermehrung der persönlichen Macht Gorbatschows. Das war die Vorausentschädigung für den proklamierten Verzicht auf Artikel 6 der Konstitution (Machtmonopol der Partei. Anm.d.Red). Für eine auf der Herrschaft Gorbatschows basierende Zentrale war hier Macht im eigentlichen Sinne — nämlich Macht durch das Vertrauen des Volkes — nicht zu erreichen. Und eben die beständige Vermehrung der persönlichen Vollmachten Gorbatschows stand einem solchen Vertrauen auch im Wege. Das Resultat war die schwach legitimierte Regierungsgewalt eines schwachen Präsidenten. Und dies ist vielleicht der wichtigste destabilisierende Faktor unseres politischen Lebens.
Nach dem März konnte man verstärkte zentrifugale Tendenzen der Republiken beobachten... Und kaum war es offenbar geworden, daß das Land über keine eigentlich effektive Regierung verfügt, begann Gorbatschow ein zweites Mal neue Vollmachten zu erbitten — und erhielt sie —, um nun jede Woche neue Erlasse zu veröffentlichen. Diese sind teils rein deklarativ, teils schädlich, sinnlos, bewußt unerfüllbar.
Während der vierten (jetzigen Anm.d.Red.) Sitzungsperiode des Obersten Sowjet hat der Präsident rein administrative Winkelzüge und Umgruppierungen vorgeschlagen... Auf jeden Fall demonstriert er damit, daß er nicht verstehen kann und will, daß gerade er als Präsident am Rande des Abgrundes steht und daß seine politische Karriere historisch erschöpft ist. Natürlich läßt sich dieses Ende für ihn noch ein, zwei, drei Jahre hinausschieben, aber dies ändert nichts daran, daß er nicht mehr der Führer der Perestroika ist, deren Frist abgelaufen ist. Was bringt uns die gegenwärtige Umorganisation der Machtstrukturen: eine ständige Schwächung der Rolle des Obersten Sowjet. Dessen äußerer Ausdruck ist der völlige Verlust einer Kontrolle der gesetzgebenden Gewalt über die Exekutive... Praktisch kehren wir zur gewohnten Situation zurück, in der den Volksvertretern nur noch eine rein rituelle Funktion bleibt...
In dieser Situation ist eine weitere Zunahme autoritären Denkens und autoritärer Macht auch in den allerextremsten Formen unausweichlich... Eine — wenn auch nicht sehr wahrscheinliche — Möglichkeit, die man aber nicht vergessen sollte, ist die Anwendung körperlicher Gewalt. Die würde eine schreckliche, wenn auch kurze Periode eröffnen, auf die dann unausweichlich ein Zusammenbruch nach rumänischem Muster folgen würde. In diesem Falle wird sehr viel Blut fließen.
Ich möchte hier sagen, daß die Regierung und Gorbatschow ihre Bereitschaft zum Allerschlimmsten demonstriert haben, nicht einfach nur zur Gewaltanwendung, sondern zur militärischen Gewaltanwendung, die sie auch schon praktizieren. Was spricht darüber hinaus für diese Annahme? Erstens die Tonart der Reden des Präsidenten. Er ist der Autor der Redewendungen, daß es „Zeit ist, von der Verteidigung zum Angriff überzugehen“, daß man eine „politische Niederlage beibringen“ müsse, daß „wir uns schon im letzten Schützengraben befinden“, daß man die „Schamhaftigkeit überwinden“ müsse, und wir müssen verstehen, daß er durch seinen Appell zur Hemmungslosigkeit in der Politik auch zur Hemmungslosigkeit in den Formen aufruft... Dazu kommen die sehr charakteristischen Neuernennungen Pugos und Gromows als Innenminister und stellvertretender Innenminister der UdSSR, besonders wenn man daran denkt, daß Pugo als ehemaliger KGB-Chef und Kenner des Baltikums dort jeden Winkel, jeden Weg und jeden Familiennamen kennt oder zumindest zu kennen glaubt — und Gromow nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis des modernen Krieges... Weiter: die Fernsehauftritte (des Verteidigungsministers — Anm.d.Red.) Jasows, wiederum Pugos und Krjutschkow (KGB-Chef — Anm.d.Red.). Sie alle unterstrichen, daß sie auf Aufforderung des Präsidenten sprächen, und sie alle stellten sich als Garanten des Sozialismus und der Unteilbarkeit der Sowjetunion dar. All dies begleitet von der schon allseits bekannten Versicherung der eigenen Härte in Verbindung mit dem Glaubensbekenntnis, daß man nicht länger warten dürfe. Schließlich paßte das soeben beendete ZK-Plenum völlig ins Bild. Ein weiterer Hinweis auf die oben beschriebene Bereitschaft ist die Bitte — zuerst von Schewardnadse auf höchster politischer Ebene ausgesprochen — um Lebensmittelhilfe aus dem Ausland. Dies bedeutet praktisch: Wir brauchen jetzt dringend ein bißchen Brot und Fleisch, um den Leuten den Mund zu stopfen, solange wir die für uns wichtigen Maßnahmen durchführen.
Übersetzung: Barbara Kerneck
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