: Vor der Kohabitation
■ Der emigrierte albanische Schriftsteller Ismail Kadaré über sein Land DOKUMENTATION
Im Oktober haben Sie in Frankreich um politisches Asyl gebeten. Damals schienen Sie nicht an die Möglichkeit eines Pluralismus in Albanien zu glauben. Jetzt hat die Regierung in Tirana ein Mehrparteiensystem angekündigt. Hat Sie das überrascht?
Ismail Kadaré: Ich war tatsächlich überrascht. Aber ich hatte schon eine Vorahnung. Ich habe Albanien nicht nur aus Enttäuschung verlassen, sondern auch, um die Bewegung zu beschleunigen. Ich wollte, daß mein Weggang den Lauf der Dinge vorantreiben könnte. Und ich möchte gern glauben, daß er auch diese Rolle gespielt hat.
Tut es Ihnen jetzt leid, gegangen zu sein?
Nein. Und ich glaube, daß meine Bücher ohne mich jetzt besser für die Demokratie in Albanien „arbeiten“ werden als mit mir.
Ist die Demokratisierung in Albanien nicht die logische Folge der Entwicklung in allen osteuropäischen Ländern?
Natürlich. Alles hängt zusammen. Aber bekanntlich ist Albanien in der Geschichte immer etwas zu spät gekommen. Das heißt nicht, daß Albanien zurückgeblieben ist. Im Gegenteil: Unter dem ottomanischen Joch und den diversen anderen Diktaturen ist Albanien reifer geworden und hat gelernt, seine Zukunft vorzubereiten. Was in den letzten Tagen passiert ist, scheint mir den Zivilisationsstand zu zeigen, den die Albaner erreicht haben. Alles geschieht ohne Anarchie, ohne Gewalt, kurz: auf sehr zivilisierte, um nicht zu sagen kultivierte Weise.
Aber das hieße doch, daß eine Diktatur auf die Zivilisation vorbereiten würde...
Ja. Im Gegensatz zu dem, was der Westen denkt, ist Albanien eine der am meisten zivilisierten Nationen auf der Balkanhalbinsel. Die Albaner sind vertraut mit der inneren Freiheit. Ihr Widerstand gegen die Diktatur ist passiv, aber ruhig und stark. Ich denke, das Böse ist nicht wirklich in diese Nation eingedrungen.
Wird dieser erste Schritt einer Liberalisierung andere Reformen nach sich ziehen?
Ich habe Angst, wie jedermann. Ich fürchte einen Gegenschlag der konservativen Kräfte. Aber ich glaube, daß die demokratischen Kräfte sie auf friedliche Weise niederschlagen werden. Man darf sich nur nicht auf Provokationen einlassen.
Kann man in Ramiz Alia einen albanischen Gorbatschow sehen?
Viele Albaner träumen davon. Zudem die Situation für Alia eine kurze Zeitlang besser war als für Gorbatschow: Alia hatte in seinem Land wesentlich mehr Sympathien auf seiner Seite als Gorbatschow in der Sowjetunion. Jetzt hat Alia eine neue Gelegenheit, sich durch Reformen beliebt zu machen.
Aber Alia hat ein enormes Handicap im Vergleich mit Gorbatschow: er wird weder von den Medien noch von den westlichen Regierungen unterstützt...
Natürlich. Aber ihm bleibt noch viel Zeit, das Vertrauen von Europa zurückzugewinnen.
Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 850 Dollar ist Albanien das ärmste Land Europas. Ist es der wirtschaftlichen Situation zuzuschreiben, daß der Dogmatismus ins Wackeln gekommen ist?
Ich glaube nicht, daß die Albaner es so sehen. Ihnen geht es vor allem um das Ideal der Demokratie und der Freiheit. Was die Armut Albaniens betrifft, von der alle Welt spricht, so bin ich anderer Auffassung. Albanien ist ein reiches Land, dessen wirtschaftliche Lage wesentlich besser ist, als behauptet wird. Heute ist es möglich, in kurzer Zeit einen Wohlstand wiederzuerreichen, der in den anderen östlichen Ländern nicht existiert.
Sie vertrauen also mehr auf die Macht des politischen Willens als auf die brutale Sprache der ökonomischen Zahlen?
Ich glaube an beides. Mit einer Präferenz für die Ideale.
Riskiert Alia nicht, genau wie Gorbatschow, in eine Entwicklung hineingezogen zu werden, die er nicht mehr meistern können wird?
Ich denke nicht. Albanien ist ein sehr homogenes Land, ohne nationale, ethnische oder religiöse Probleme. Alle diese Fragen haben bei uns keine Zukunft. Im Unterschied zur Sowjetunion.
Es gibt keine Gefahr religiöser Auseinandersetzungen?
Nein. Die religiöse Frage hat lange als Propaganda-Vorwand für die Unterdrückung der Religionsfreiheit gedient. Aber das ändert sich. Ein Beispiel: Vor drei Wochen waren Moslems und Katholiken gemeinsam bei der Wiedereröffnung der größten Kirche Albaniens anwesend. Für sie ist das mehr eine Frage der Freiheit denn der Religion.
Welchen Ratschlag würden Sie dem einfachen Albaner von der Straße geben?
Nicht in die schlechte Tradition der Nach-Diktaturen zu fallen. Also den Rachegeist vergessen. Die Albaner werden jetzt zusammen leben. Es geht nicht darum, sich an den alten Unterdrückern zu rächen. Aber ich bin zuversichtlich. Ich hatte immer schon Zuversicht in die Zukunft Albaniens.
Man kann also die Liberalisierung in Albanien nicht mit der in Rumänien vergleichen?
Ich glaube, daß alle fortschrittlichen Kräfte der albanischen Nation am Prozeß der Liberalisierung teilnehmen müssen. Einschließlich der Kommunisten. Die müssen nicht fürchten, daß die Sache zu ihrem Schaden sei. Denn bekanntlich ist der Tod die am meisten gehegte Idee der Diktaturen. Nach dem Muster: „Wir werden alle zusammen für den Marxismus-Leninismus sterben“ oder: „Kuba wird im Meer versinken, wenn es den Marxismus verrät“. Das erste, was eine Demokratie tut und tun muß, ist: die Menschen von dem Todeskomplex zu befreien. Und von dem Schuldgefühl.
Glauben Sie, daß viele Albaner emigrieren werden, sobald sich die Grenzen öffnen?
Zur Zeit nicht. Im Gegenteil, ich glaube, viele Albaner werden in ihr Land zurückkehren wollen.
Zählen Sie sich dazu?
Alle Flüchtlinge träumen davon zurückzukehren. Wenn Albanien ein demokratisches Land wird, werde ich natürlich dorthin zurückkehren.
Ab welchem Moment würden Sie sagen, daß Albanien ein demokratisches Land ist?
Wenn die Demokratie stabil ist. Konkret: wenn alle Freiheiten gesichert sind. Man hat oft gesagt, bei uns gäbe es keine demokratischen Traditionen. Das ist falsch: Seit Jahrhunderten haben die Albaner Traditionen der Gerechtigkeit, die ihnen helfen dürften, schnellen Anschluß an Europa zu finden.
Wie werden Sie jetzt Ramiz Alia unterstützen?
Meine Position hat sich nicht geändert. Ich habe ihn unterstützt, als er richtig handelte, und ich habe ihn kritisiert, wenn es nötig war.
Sehen Sie sich bedroht wie Salman Rushdie?
Ich denke nicht. Ich möchte glauben, daß diese Zeiten vorbei sind.
Erscheint Ihnen Alia aufrichtig? Haben Sie Vertrauen zu ihm?
So sehr man einem Politiker trauen kann. Das heißt, so wie ich die Mentalität, die Geschichte, das Denken meines Volkes kenne, glaube ich, daß alles gut verlaufen wird. Denn unserem Temperament ist nicht nach Anarchie. Wir schätzen Regeln, wenn die Regeln gut sind.
Wird sich die neugegründete demokratische Partei halten können?
Ich denke ja. Ich habe ihr Programm gehört, es war sehr gut, sehr klar. Sie hat die Unterstützung der gesamten Bevölkerung. Was die Kommunistische Partei betrifft, so wird sie eine Kohabitation akzeptieren müssen. So lange, bis es — warum nicht? — einen Machtwechsel geben wird.
Sie glauben, es wird eine Kohabitation geben?
Die Kommunistische Partei regiert Albanien seit dem Krieg. Sie hatte das Machtmonopol. Viele Leute aus dem Widerstand sind 1944, als Albanien sich befreit hatte, in die Partei eingetreten. Diese Menschen sind heute über 60 Jahre alt. Das darf man nicht vergessen, wenn man die Lage in Albanien analysiert.
Europa darf Albanien nicht aufgeben. Es gibt noch zu viele Vorurteile gegenüber dem Land.
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