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Schewardnadze: „Ich trete zurück“

■ Der langjährige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse warnt vor der „fortschreitenden Diktatur“/ Angriffe wegen DDR- und Golfpolitik zurückgewiesen

Dies sei die „kürzeste und schwierigste Erklärung seines Lebens“, erklärte der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse am Donnerstag vor dem Kongreß der Volksdeputierten. Sein Rücktritt sei Protest gegen die „fortschreitende Diktatur“ in der UdSSR:

„Genossen Demokraten, ich meine es im breitesten Sinne dieses Wortes, Sie haben sich verkrochen. Die Reformer verstecken sich hinter den Büschen. Eine Diktatur ist im Anzug — dies erkläre ich mit voller Verantwortung. Niemand weiß, wie die Diktatur sein wird und was für ein Diktator kommt, was für Zustände. Ich werde immer die Ideen der Perestroika, der Erneuerung und der Demokratie unterstützen.

Aber als Mensch, Bürger und Kommunist kann ich mich mit den Ereignissen, die in unserem Land passieren, und jenen Prüfungen, die auf unser Volk zukommen, nicht abfinden. (...)

Ich trete zurück. Dies ist mein Protest gegen die anbrechende Diktatur. Und doch glaube ich, daß die Diktatur nicht durchkommen wird. Die Zukunft gehört der Demokratie und der Freiheit.“

Bei dieser Gelegenheit erinnerte Schewardnadse an die harten politischen Auseinandersetzungen auf dem KPdSU-Parteitag im Sommer, wo der Kampf zwischen Konservativen und Reformern ausgetragen worden sei. 800 Delegierte hätten gegen ihn gestimmt. Auch bei der Erörterung der Probleme des Abzugs der Truppen aus der DDR sei er massiv beschuldigt worden.

In letzter Zeit sei er zunehmend auch persönlichen Angriffen seitens verschiedener „Reaktionäre“ und des Militärs ausgesetzt gewesen, insbesondere wegen seiner Haltung zur deutschen Vereinigung und zur Golfkrise. Er habe mehrfach betont, daß die UdSSR, die mit dem Irak in einer seit langem dauernden Beziehung verknüpft sei, keinen einzigen Soldaten an den Golf senden werde, obwohl die Besetzung eines kleinen Landes durch Bagdad moralisch zu verurteilen sei.

Er habe aber auch klar gemacht, so Schewardnadse vor den Abgeordneten weiter, daß sein Land keinen seiner Bürger im Stich lassen werde, sollten dessen Rechte bedroht sein. Jüngste Attacken durch „zwei Oberste“ in der Presse wies er zurück. Sie hätten vorgeschlagen, daß es nach dem Sturz von Innenminister Wadim Bakatin nun „an der Zeit sei, mit dem Außenminister abzurechnen“. Er frage sich dabei, wieso ihnen niemand widersprochen habe.

Geradezu schockiert sei er vom ersten Sitzungstag des Kongresses der Volksdeputierten gewesen, wo durch „einen einfachen Druck auf den Knopf“ über das Schicksal des Präsidenten und des ganzen Landes entschieden worden sei.

Am Montag hatte eine Abgeordnete eingangs eine Vertrauensabstimmung über Präsident Michail Gorbatschow gefordert, die Deputierten hatten dies aber durch ein Votum von 1.288 gegen 426 Stimmen zurückgewisen und sich dabei des Abstimmungscomputers bedient. „Mein Rücktritt ist meine Flagge, die meinen Protest gegen die fortschreitende Diktatur ausdrücken soll. Ich danke besonders Ihnen, Michail Gorbatschow, dessen Freund ich bin.“

Während die Deputierten ihm stehenden Applaus spendeten, blieb Gorbatschow still und reglos, ebenso wie der Präsident des Obersten Sowjet, Anatoli Lukjanow. Der Sprecher Gorbatschows, Witali Ignatenko, sagte vor Journalisten, der Präsident habe eine Rede des Außenministers erwartet, aber ihr „Inhalt war unerwartet“. Es werde sich „nichts an der Außenpolitik der UdSSR ändern“.

Gorbatschow und Schewardnadse haben sich nach der Rede kurz beraten. Der Außenminister werde auf seinem Posten bleiben, bis der Oberste Sowjet, der vom 29. Dezember an tagen solle, seinen Rücktritt angenommen habe. dpa/ap

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