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Nicht wie im Leben

■ Ariane Mnouchkine über Theater, Geschichte, die Griechen und Asien

Die Pariser Regisseurin und Prinzipalin des ThéÛtre du Soleil Ariane Mnouchkine wurde in Deutschland zunächst durch ihr Revolutionsspektakel „1789“, ihren „Molière“-Film und die Inszenierung der Königsdramen von Shakespeare berühmt. Die „Indiade“- und „Sihanouk“-Stücke von Hélène Cixous waren in der Kritik eher umstritten, Mnouchkines jüngste Inszenierungen aber, die beiden ersten Teile der Trilogie des Aischylos, wurden besonders in der deutschen Presse wieder gefeiert.

taz: Was passiert, wenn Sie einen Text auf die Bühne bringen? Wie gehen Sie mit Texten um?

Ariane Mnouchkine: Ich denke nicht, daß wir es sind, die sich eines Textes bemächtigen. Es ist das genaue Gegenteil. Ein Text, den wir uns ausgesucht haben, nimmt uns in Beschlag, den Schauspieler wie den Regisseur. Als jüngerer Mensch nimmt man einen Text, einen großen Text, um sich selbst durch ihn auszudrücken. Im Lauf der Theaterarbeit ändert sich das. Man wird bescheidener und anmaßender zugleich. Bescheiden, indem man sich Shakespeare — dieses Gebirge Shakespeare! — genauer anschaut, und anmaßender, weil jetzt die Frage ist: Was ist das Entscheidende an diesem Text? „Mephisto“ war eine Adaptation auf Grundlage des Romans von Klaus Mann. Die Shakespeare-Dramen und jetzt die „Atriden“ sind dagegen reine Übersetzungen. Eine Adaptation war nicht nötig, der Text ist als solcher schon gewaltsam und kühn genug.

Was geschieht mit einem Text? Er nimmt uns in Beschlag, das Publikum auch — so hoffe ich — und wird uns teuer. Der Text eines Dichters, der vor 2.500 Jahren geschrieben wurde, wird eines abends um halb acht teuer und inkarniert sich in den Schauspielern und den Blicken des Publikums.

Warum haben Sie sich gerade jetzt die „Atriden“ als Text ausgesucht?

Man kann als Theatermacher nicht sterben, ohne einmal Shakespeare und die Griechen gespielt zu haben. Wir waren dabei, an einem Text über die Résistance zu arbeiten. Und noch bevor ich mit den Proben beginnen konnte, bin ich steckengeblieben, ins Stolpern geraten. Ich spürte, daß ich noch zu nahe am Ort und an der Zeit war. Es ging nicht. Ich hatte keine Bilder in mir — es gab keinen... wie soll ich sagen? — keinen theatralischen Raum. Ich brauche diese ersten Bilder, um proben zu können, auch wenn ich nachher alles komplett ändere. Also habe ich mir gesagt: zurück zu den Griechen, und habe die Stücke der Alten noch einmal gelesen.

Sie leiten die letzte größere Theatertruppe in Paris, die bislang noch Zeitgeschichte zum Thema für Theater machte. Ist das ThéÛtre du Soleil jetzt in die Geschichtslosigkeit eingetreten wie die anderen auch?

Es ist immer wieder erstaunlich, wie schwer es euch Journalisten fällt, die Demarche einer Truppe als Demarche zu akzeptieren. Wir machen modernes Theater — und gehen dann zu Shakespeare zurück, um dann wieder moderne Stücke zu spielen. Wir haben ein Stück über den Prinzen Sihanouk gespielt — und mußten den Umweg über die Königsdramen Shakespeares machen. Das ist eine Dialektik.

Ich habe nur gesagt, daß die Résistance für mich persönlich zu nahe war. Ich habe es nicht geschafft, meine Einbildungskraft von dem sehr fotografischen, cinematographischen Bild loszulösen und in das Universum von Licht und Mythen zu bringen, das für mich Theater ausmacht. Ich möchte das nicht dieser Epoche ankreiden, aber es war das erste Mal, daß wir eine Sache machen wollten, die jetzt und hier stattfindet (denn verglichen mit anderen Themen ist die Résistance Gegenwart). Die Stücke von Hélène Cixous, die wir gespielt haben, waren zeitgenössische Stücke, die von gegenwärtigen Tragödien handeln. Sie spielen alle am anderen Ende der Welt. Aber wir werden das Résistance-Stück auf die Bühne bringen. Später.

Was haben Sie bei den Griechen gefunden?

Wenn man sich zu den Quellen aufmacht, entdeckt man nichts Neues, sondern bekommt etwas bestätigt. Man entdeckt beim Proben, wie voll diese Texte sind vom Wunsch nach dem Tod, nach Blut, und wie zivilisiert wir letztlich sind. Die Griechen sagen: Es gibt das Schicksal, es gibt die Götter. Und das Schicksal ist immer schrecklich. Aber da gibt es auch die Wahl — sie schieben nicht alles auf die Götter ab. Eine schlechte Wahl zieht notwendig ein schlechtes Schicksal nach sich. Aber leider funktioniert es nicht umgekehrt. Agamemnon entscheidet sich für die Macht und nicht für das Schicksal. Die einzige, die sich für etwas entscheidet, für die Liebe, ist Iphigenie, und die einzige, die gegen das Schicksal anzugehen versucht, ist Klytämnestra. Sie gehorcht den Göttern nicht, sie hört auf ihre Passion, im ersten Teil auf die Liebe zu ihrer Tochter, im zweiten auf ihre Rachegelüste.

Ehemalige Soleil-Schauspieler haben Ihnen vorgeworfen, Sie würden zu dirigistisch mit ihrer Truppe arbeiten...

Ich glaube nicht, daß ich sehr direktiv bin. Schauspieler müssen ihr Spiel selbst finden. Ich als Regisseurin sehe nur oft besser, bis wohin die Schauspieler gehen können. Ein Regisseur darf nicht sagen: Das ist es, so wird es gemacht, sondern: Nein, mach das anders. Und er kann Hindernisse aus dem Weg räumen, damit sich ein Schauspieler ausdrücken kann. Hindernisse auf der Bühne und in den Köpfen.

Was verlangen Sie von Ihren Schauspielern?

Es ist die Pflicht eines Schauspielers, glaubhaft, nein: gläubig zu sein. Das ist zur Zeit nicht sehr in Mode. Wir leben in einer Zeit, in der man alles darf, nur nicht an etwas glauben. Der Beruf des Schauspielers ist es, zu glauben. Wenn eine Person sagt: Ich will sterben, dann muß der Schauspieler daran glauben. Ich will sterben, punctum. Er muß glauben, damit das Publikum es sehen kann und bewegt ist.

Inwieweit schreiben Sie für ein Publikum?

Ich schreibe für mich. Ich inszeniere die Stücke, die ich selbst gerne sehen möchte. Wenn ich einen Schauspieler spielen sehe und dabei Gänsehaut bekomme — voilà, das ist es! An das Publikum denke ich nur bei gewissen Passagen, ob sie auch verständlich sind.

Wieso haben Sie den Chor in der Iphigenie in orientalischen Kostümen auftreten lassen?

Die Kostüme wurden einem sehr alten archaischen Theater abgeschaut. Cathérine hat Forschungen angestellt und ist auf ein altes Dokument gestoßen. Die griechischen Tragödien wurden in sogenannten orientalischen Kostümen gespielt, nicht in römischen Togen, wie man geglaubt hat. In der griechischen Welt waren die Personen nüchtern, die Theaterkostüme nicht.

In allen Ihren letzten Stücken sind asiatische Anklänge zu finden. An welche Tradition knüpfen Sie damit an?

Asien ist sehr wichtig für mich. Es gibt dort, außer vielleicht in Japan, nicht viele Autoren und nur wenige Stücke, die aber immer wieder wiederholt werden. Dort, wo Asien die Urmutter des Theaters ist, ist das die Kunst des Schauspielers. Es gibt 2.000 Jahre alte Bücher, die sich nur um die Frage kümmern: Was ist Spielen? Nicht, daß ich unbedingt östliches Theater machen möchte, aber Artaud hat gesagt: Das Theater ist östlich. Er hat recht. Die Griechen haben die Tragödie entwickelt, Asien die Kunst des Spielens: Spielen ist gerade nicht, es so zu machen wie im Leben... Auf die Bühne steigen bedeutet nicht, so zu gehen, zu sprechen, zu handeln wie im Leben, sondern zu wissen, daß es ein höheres Leben gibt, das sich auf der Bühne ausdrückt.

Das Gespräch führte Alexander Smoltczyk

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