: Im Grunde monoman
Zur Nay-Retrospektive in Köln ■ Von Martina Kirfel
Wer abstrakte Kunst sehen möchte, der sollte nach Köln fahren. Dort zeigt das Museum Ludwig in der Josef- Haubrich-Kunsthalle eine umfassende Werkübersicht des Malers Ernst Wilhelm Nay. Er gilt als derjenige, der im Nachkriegsdeutschland der abstrakten Kunst zum Durchbruch verhalf. Nay lebte von 1951 bis zu seinem Tod 1968 in Köln. Die Stadt ehrt ihn nun nicht nur mit einer Retrospektive seines über vierzigjährigen künstlerischen Schaffens. Zugleich gibt das Museum Ludwig eine komplette Werkmonographie seiner Ölgemälde heraus. Das zweibändige Werk umfaßt 1.300 Arbeiten und kostet 800 DM. 'Die Zeit‘ beschwor bereits eine Nay-„Renaissance“ herauf, kletterten doch dieses Jahr die Preise für Nays Bilder auf bis zu einer halben Million Mark. Allerdings wirkt die ganze Begeisterung etwas aufgesetzt: An einem gewöhnlichen Wochentag schweifen nicht mehr als zehn bis zwanzig Besucher durch die großen Säle.
Das umfangreiche Werk Nays läßt sich in übersichtliche Werkphasen einteilen. Der Ausstellungsbesucher kann sich schnell chronologisch orientieren und bemerkt als erstes, daß Nay fast 25 Jahre lang schlechte Bilder malte. Da hängt ein braunrot getauchtes stilisiertes Kalb von 1934, auf das die Kunstgeschichte ohne weiteres verzichten könnte. Es folgten bis 1936 Dünen- und Fischbilder in einem vergröberten, an Kirchner orientierten Expressionismus. Der erste Lichtblick sind die Lofotenbilder. Sie entstanden 1937 und 1938 anläßlich zweier Besuche bei Edward Munch in Norwegen. Spontan und in der Farbgebung sicher aquarellierte Nay vor Ort die grandiose Landschaft der Lofoten, die er durch schroffe Diagonalen in Bewegung brachte: eine bedrohliche Natur voller mythischer Kraft. Zurück im Berliner Atelier verarbeitete Nay seine Eindrücke weiter. Der „Maler der Farbe“ und Gegner jedweden Illusionismus hob nun die Raumtiefe der Landschaften vollends auf: Er malte unruhige Flächenmuster ohne Vorder- und Hintergrund, deren einzelne Farbflächen vor- und zurückzuschwingen schienen: Der „Wellblech“-Effekt.
Bereits 1937 wurden seine Bilder für „entartet“ erklärt. Er erhielt Ausstellungsverbot. In der künstlerischen Isolation kam er nicht recht voran. 1940 wurde er Soldat, mußte jedoch nicht an die Font, sondern „durfte“ im besetzten Frankreich Karten zeichnen. Fern vom Kriegsgeschehen malte er im Atelier befreundeter Künstler weiter, hier besuchte ihn von Paris aus der Nazi- Ideologe Ernst Jünger. In Frankreich entstanden halb figurative halb abstrakte Figuren- und Landschaftsbilder Köpfe, Bäuche, Brüste schwirren zwischen grellen Farbsegmenten. Offenbar verarbeitete Nay Eindrücke der französischen Kollegen Braque, Picasso, Gris und Cezanne. Während um Nay herum die Welt in Flammen stand, entwarf dieser bunte Paradiesgärtlein, die er mit munteren Nackten bevölkerte, eine „mythische Wirklichkeit, genährt aus den Quellen, aus denen die Religionen kamen“ (Nay).
Auf diesem Irrweg blieb Nay bis 1949, wobei sein Farbauftrag immer pastoser, die splittrigen Farbsegmente immer fettiger wurden. Langsam jedoch reduzierten sich dann seine figürlichen Elemente, die grelle Vielfarbigkeit differenzierte sich zu einer sanft tonigen Palette. Nay schuf die „fugalen“ Bilder (1949-1951). Der Begriff ist abgeleitet von der Musikform der Fuge und spielt auf den beginnenden Einfluß der Musik auf die Kunst Nays an. Rhythmisch schwingen runde Formen, miteinander verwobene Arabesken und Schleifen in einem „Tanz der Fläche“ (Nay). Er verstand sich nun als „Tonsetzer“, der seine Bilder „instrumentiert“.
Von 1952 bis 1953 entstanden unter dem Einfluß der Musik von Schönberg, Webern, Strawinsky und Bartok die „Rhythmischen Bilder“. Nays Flächen wurden zu schwebenden Flecken, Punkte und Punktreihen setzten Akzente, Linien verbanden sich zu Bögen.
1954 bis 1962 schließlich malte Nay die berühmten „Scheibenbilder“, die ihm sogleich zu durchschlagendem Erfolg verhalfen (documenta I in Kassel). Indem Nay kontrapunktisch leuchtende Farbscheiben auf seine großen Formate setzte, verhinderte er immer konsequenter eine Raumwirkung: Die Scheiben scheinen am Horizont seiner Leinwände zu schweben. Die Farben stehen nur für sich selbst, sie bezeichnen nichts und verweisen auf nichts. Nay nannte das die „Befreiung der Farbe durch die Fläche“. Später begann Nay die Scheiben zu schraffieren, durchzustreichen und graphische Elemente aus ihnen zu entwickeln. Dies führte ihn zur Form des Auges in der Werkphase der „Augenbilder“ (1963-1964). Nay stand nun im Zenit seines Erfolgs: Die documenta III setzte ihm mit drei monumentalen Augenbildern, die an der Decke installiert waren, ein Denkmal.
In seinem Spätwerk (1965-1968) radikalisierte Nay nochmals sein Konzept. Wiederum reduzierte er Farben und Formen. Seine letzten Bilder sind mit hauchdünnen schimmernden Farbschichten überzogen. In einer Art Negativ- Positiv-Verfahren bleiben organisch anmutende Formen ausgespart und lassen die blanke weiße Grundierung stehen. Diese Bilder erinnern an das Spätwerk des kranken Matisse. Als Matisse nicht mehr malen, sondern nur noch mit der Schere Buntpapier ausschneiden konnte, schuf er figürliche und abstrakte Darstellungen, die trotz oder gerade wegen ihrer Reduktion die Summe seines künstlerischen Wissens zu enthalten schienen. Auch wenn Nays Spätwerk diese Konzentration nicht erreicht, so finden sich doch, neben nichtssagenden glatten Farbkompositionen, einige außergewöhnliche Bilder darunter. Nay selbst behauptet, in seinem Spätwerk zu einer „nunmehr eindeutigen Zweidimensionalität“ gefunden zu haben, in deren organischen Formen „etwas überraschend Kreatürliches“ durchscheine. Werner Haftmann bezeichnete diese lebendig gewordenen Formen als „Gestalt“.
277 abstrakte Bilder — das ist starker Toback für die Sehgewohnheiten der 90er Jahre. Nicht, daß die Austellungsbesucher schockiert wären. Sie scheinen vielmehr zerstreut, ein bißchen langweilig und ein bißchen ratlos. Dabei wollten die Kölner Ausstellungsmacher Nays Werk einer neuen Generation vorstellen. Werner Haftmann, der Nestor unter den Fachleuten der Moderne und Autor der ersten Nay-Monographie (1960), hat das Spätwerk Nays in einem Aufsatz im Ausstellungskatalog noch einmal eigens gewürdigt. Auch Haftmann richtet sich an die kommende Generation, damit sie „mitten im Getümmel der künstlerischen Auseinandersetzung mit unserer zeitgenössischen Informations-, Propaganda- und Gebrauchswelt sich erinnern möge, was Malerei als autonome geistige Leistung eigentlich ist“.
Hymnisch verhallt das Lob des alten Haftmann: „Die Einzigartigkeit — die Einsamkeit — seiner Malerei im zeitgenössischen Kontext liegt in der komplexen Höhe des geistigen Fluges. Ihr entspricht die Höhe des Stils.“ So einzigartig war die Kunst Nays nun auch wieder nicht, vollzog er doch für Deutschland nach, was an Impulsen in der Nazizeit in anderen europäischen Ländern bereits vorhanden war und was mit der Malerei von Wols und Pollock sich fortsetzte. Ein Einzelner jedoch blieb er, der von sich selbst sagte: „Das Nicht- Zuhören war bei mir sehr ausgeprägt, ich lebe gern für mich — jedenfalls ein wenig abgeschirmt nach außen.“ — „Ich war schon damals [...] im Grunde monoman. Politik war wie Religion vollkommen verpönt...“Und der von sich behauptete, bei ihm sei „alles ins Prinzipielle erhoben, ins Abstrakte, ins Losgelöste“.
Am Ende seines Lebens war es Nay wichtig, die malerischen Erkenntnisse seines Spätwerks an die kommende Generation weiterzugeben. Er sah sein Vorhaben noch scheitern. Wie kann ein Monomane, der nie zuhört und sich weder für seine Zeit noch für seine Zeitgenossen interessiert, den Menschen etwas vermitteln? Das Vermächtnis seiner späten Bilder war die Rückkehr vom Abstrakten zum „Kreatürlichen“, von der toten Form zur lebendigen „Gestalt“. In seiner Blindheit für die Außenwelt bestimmte Nay ausgerechnet diese Bilder für die Kernforschungsanlage Karlsruhe.
Retrospektive E.W.Nay, Josef- Haubrich-Kunsthalle Köln bis 20. Januar, danach: Kunsthalle Basel und Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh. Der Katalog hat 210 Seiten und kostet 48 DM.
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