Euroföderalismus

■ US-Verfassung — Vorbild für Europa? EUROFACETTE

Feudalismus ist etwas spezifisch Europäisches, der Föderalismus eine Schöpfung Amerikas. Beide Begriffe gehen auf dieselbe Wurzel zurück: Das lateinische Wort foedus bezeichnet das Bündnis sowohl zwischen Fürsten als auch freien Staaten. Dazwischen liegen Welten, im wahrsten Sinne des Wortes. Doch die gemeinsame Wurzel verweist auf Ähnlichkeiten. Der bunte Länderteppich, zu dem das „Heilige Römische Reich“ (Deutscher Nation) zerfallen war, hatte de facto den Charakter einer föderativen Ordnung: „Eine Wahrheit, die an einem Ort nicht laut werden durfte, durfte es an einem anderen (...)“, schreibt Fichte in einer Rede an die deutsche Nation; und so fand denn bei manchen Einseitigkeiten und Engherzigkeiten der besonderen Staaten, dennoch in Deutschland, als Ganzes die höchste Freiheit der Erforschung und Mitteilung statt, die jemals ein Volk besessen hat. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die „Polyarchie“ (Hegel) der deutschen Kleinstaaterei dem Einzelnen zeitweise mehr Freiheiten gewährte als spätere nationalstaatliche Verfassungen.

Während Feudalismus, wie das deutsche Beispiel zeigt, in letzter Konsequenz auf die Neutralisierung oder gar Aufhebung einer Zentralgewalt hinausläuft, liegen die Wurzeln des Föderalismus, wie das amerikanische Beispiel zeigt, im Streben nach einer starken Zentralgewalt. James Madison, der Architekt der amerikanischen Verfassung und der Manager des Verfassungskonvent von 1789 hatte nichts dringlicher im Sinne als die Brechung der Macht der Einzelstaaten und ihre Ersetzung durch eine auf allgemeine Volkssouveränität gegründete starke zentrale Regierung.

Mag Föderalismus in der gegenwärtigen europäischen Diskussion vor allem Vielfalt, Diversität und Zersplitterung von Herrschaft bedeuten, im amerikanischen Diskurs verbindet sich der gleiche Begriff mit dem genauen Gegenteil: Die feds sind die auf der lokalen Ebene verhaßten bundesstaatlichen Behörden und Bürokraten. Je kleiner das Gemeinwesen, so Madison, desto wahrscheinlicher ist es, daß die Interessen von wenigen die Oberherrschaft gewinnen. Dehnt man statt dessen die politische Sphäre aus, ergibt sich mehr Vielfalt von Meinungen, Interessen und Parteien.

„Der Rousseauschen Utopie einer in einem kleinen Kanton lebenden undifferenzierten Gemeinschaft von Individuen stellt Madison die Vision einer großen und differenzierten Gesellschaft von Freien gegenüber (...) Die Rousseausche Konzeption eines homogenen Kleinstaates enthält die Keime zur Entwicklung einer Totalitären, die Madisonsche Konzeption eines heterogenen Bundesstaates enthält die Keime zur Entwicklung einer liberalen Demokratie“, schreibt der deutsche Staatsrechtler Fraenkel.

Seit es die die Vision eines geeinten und demokratischen Europas gibt, stellt sich die Frage, ob die vereinigten Staaten von Europa nicht so verfaßt sein sollen, wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Die aktuelle Diskussion in Deutschland über ein vereintes Europa wird von der Hoffnung beherrscht, Europa werde die Welt und die Deutschen vom unseligen Erbe des Nationalismus und der Nationalstaaten befreien. Sie sollen zugunsten der Regionen zurücktreten: Kantone als Basis und darüber das ebenso unnationale wie undurchsichtige Bürokratenbabylon der Eurokratie. Die amerikanische Verfassung ist ein Kompromiß aus den Ideen der Zentralisten um Madison und den eifersüchtig bewachten Interessen der Bundesstaaten. So entstand ein seltsames Konstrukt, das nicht nur die horizontale Gewaltenteilung (gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt) kennt, sondern auch eine vertikale (Bundeskompetenz und einzelstaatliche Kompetenz), ein System, das in der staatsrechtlichen Literatur als doppelte Souveränität bezeichnet worden ist.

Bei oberflächlicher Betrachtung der amerikanischen Geschichte könnte man meinen, daß im Laufe der zwei Jahrhunderte die Einzelstaatlichkeit immer mehr zugunsten der Bundeskompetenz zurückgedrängt worden ist, ja, daß die states rights (die Rechte der Bundesstaaten) die Domäne des Konservatismus, während die Ausweitungen der Bundeskompetenz ein Anliegen der fortschrittlichen Kräfte sind. Die Gewerkschafts- und Bürgerrechtsbewegungen haben in den dreißiger Jahren mit Hilfe der Bundesgewalt Errungenschaften durchgesetzt, während Big Busineß und Rassisten sich der states rights zu bedienen suchten. In der Frage der Ökologie aber spielen in den USA die Bundesstaaten eine Vorreiterrolle. So können sie für ihren Zuständigkeitsbereich Umweltstandards festlegen, etwas, das absurderweise durch die europäische Einigung unmöglich wird.

Worin besteht denn nun die Seele des Föderalismus? In der Stärkung der Partikulargewalten bei gleichzeitiger Schwächung der Zentrale oder umgekehrt? Oder bleibt nichts als der oberlehrerhafte Ruf nach verwaschener Ausgewogenheit deutscher Besinnungsaufsätze? Im heutigen Europa geht es wie im Philadelphia des Jahres 1789 eigentlich nicht um Staatenbund oder Bundesstaat, sondern um Gerechtigkeit, Frieden, Wohlfahrt und Freiheit. Ökologie würden wir dazunehmen. Das amerikanische Verfassungsparadox setzte zu diesen Fragen eine ungeheure Dynamik frei. Der Kompromiß zwischen Visionären und Sklavenhaltern, zwischen urbanen Weltbürgern und Provinzmafiosi ist „die Schaffung zugleich eines konservativen sowie die Projektierung eines radikaldemokratischen Staatswesens“, schreibt der deutsche Staatsrechtler Ernst Fraenkel. Eine vergleichbare Dynamik steht in Europa aber noch aus. Reed Stillwater

Der Autor ist freier Journalist und befaßt sich vor allem mit transatlantischen Themen.