: Gazzaland
■ Paul Gascoigne, der europäische Engländer PRESS-SCHLAG
Jährlich zu Weihnachten ernennt Englands gefürchtete satirische Zeitung 'Private Eye‘ den „Langweiler des Jahres“. Der Sieger ist derjenige, welcher in den vergangenen zwölf Monaten mit den geringsten Leistungen die meiste Publicity erwarb. Diesmal wurde die Wahl zur Formalität: Der Fußballer Paul Gascoigne erhielt seinen xten Titel 1990.
Niemand nennt das dicke Fußballmännlein noch Gascoigne. Seit der WM sagt wahrscheinlich selbst sein Mutter „Gazza“ zu ihm — ich habe sie nicht gefragt, da sie heutzutage 1.000 D-Mark Informationshonorar berechnet. Englands Gazzaverehrung hat unerhörte, lächerliche Formen angenommen. Er ist wenigstens so beliebt wie Lady Di. Es sind verschiedene Gazzabücher und -zeitschriften auf dem Markt; seine Single, das häßlichste aller schlimmen Fußball- Lieder, erreichte den zweiten Platz in den englischen Charts; und die Boulevardzeitungen leben von Gazza. Die 'Sun‘ hat sogar das Gazzafamilienfotoalbum als Serie abgedruckt, was die Entwicklung vom kleinen, dicken, häßlichen rothaarigen Kind mit Sommersprossen zum kleinen, dicken, häßlichen, rothaarigen Nationalspieler mit Sommersprossen zeigte.
Jedes Land hat die Helden, die es verdient. Warum vergöttern die Engländer Gazza? Ich muß gestehen, daß es auch für einige von uns ein Rätsel ist. Die Gazzahysterie, so viel ist klar, fing nach dem WM- Halbfinale England-Deutschland richtig an. Nur noch wenige Minuten waren zu spielen, als Gascoigne ein unnötiges Foul beging, die gelbe Karte bekam und damit für das erhoffte Endspiel gesperrt war. Gazza begann zu weinen.
Das Fernsehen fing den Anblick perfekt ein und auf Millionen englischen Sofas platzten ebenfalls Tränen. Gazzas Tränen inspirierten den intellektuellen britischen Fernsehsender „Channel Four“ sogar zu einer erfolgreichen Sendefolge über Männer, die öffentlich geweint haben.
Zugegebenermaßen ist Gazzas Weinen ungewöhnlich ergreifend. Vertraulich gibt er zu, daß er manchmal taktisch gezielt weint. Bekannt ist die Geschichte seines ersten Treffens mit Jack Charlton, heute Teamchef der irischen Nationalmannschaft. Als der knallharte „Big Jack“ Trainer bei Newcastle United wurde, rief er den Teenager Gascoigne zu sich, um ihm mit der Entlassung zu drohen, falls er kein Gewicht verlieren würde. Das Treffen endete mit einem gemeinsamen Heulen: „Der Junge hat wirklich ein schlimmes Leben gehabt“, verteidigte Charlton sich nachher.
Gazza stammt aus der armen Stadt Gateshead, im Nordosten Englands, wo sein Vater schon fast zwanzig Jahre arbeitslos ist. Oft wird behauptet, Gazza sei mit „fish and chips“ aufgewachsen, aber in seiner Gegend galt Fisch als fast unerreichbarer Luxus. Jetzt spielt er für Londons Glamourverein Tottenham, aber er fährt wöchentlich nach Hause, um im Arbeiterklub seines Vaters zu trinken.
Er ist ein Mann des Volkes, und das Volk weiß es. Für die Engländer stellt er den unverfälschten englischen Burschen dar, der sich mit den „Europäern“ messen kann, ohne sich wie ein Europäer zu verhalten. Er spricht kein ausländisches Wort, will auch keines lernen, und hat dennoch eine unenglische Technik und Spielintelligenz. Deshalb ist er so beliebt. Er ist genau das Symbol, das England jetzt braucht. Bis Gazza mußten die Engländer immer wieder hören, daß „die Europäer“ reich sind, Sprachen kennen, ihre Straßen sauber halten und technischen Fußball spielen. Das Land hatte einen starken Minderwertigkeitskomplex. Nur wenige glaubten noch Margaret Thatchers ständigem Bestehen auf britischer Überlegenheit. Deshalb wurde sie durch John Major ersetzt: Genauso wie Gazza spielt er europäisch und bleibt dennoch unverkennbar englisch.
Margaret Thatcher hatte Gazza kurz vor ihrem Sturz in einem verzweifelten Versuch, sich mit dem neuen England zu identifizieren, zu sich in die Downing Street eingeladen. Anscheinend haben sie einander umarmt, und Gazza verkündete später, sie sei „knuddelig“. Aber er lügt immer, wenn es um Frauen geht. Bis zu jener Begegnung war Thatcher wahrscheinlich die einzige Engländerin, der Gazza kein Begriff war. Vom Fußball kennt sie nur das Rowdytum.
Manche glauben, daß Gazza bald neben Thatcher auf dem Schrotthaufen liegen wird. Sein Vorgänger, der brillante irische Flügelmann George Best, wurde auch von hysterischer Publicity ruiniert. Best ist seit Jahren Alkoholiker. Der Vorsitzende von Newcastle United, Gazzas ehemaligem Verein, hat Gascoigne „George Best ohne Gehirn“ genannt. Gazza wiederum bezeichnete Best als „Abschaum“, dieser konterte mit der unzweifelhaft richtigen Bemerkung, er sei auf jeden Fall der bei weitem bessere Fußballer gewesen. Aber gerade mit Fußball hat Gazzas Ruhm ja wenig zu tun. Simon Kuper
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