: Der Wunderzug
Eine umstrittene Erzählung aus Israel ■ Von Dror Green
Ra'ifs kleine Tochter hatte Epilepsie und obwohl sie hübscher aussah als ihre älteren Geschwister, war ihr Gesicht von dieser Krankheit, die auch ihr Gehirn geschädigt hatte, schwer gezeichnet. Ihre Schönheit war von sehr besonderer Art: ihr Körper groß und mager, obwohl sie eigentlich eher zuviel aß, und ihre bleiche Haut war straff und delikat über den Knochen gespannt. Das Mädchen sah aus wie ein kleiner Engel, der jeden Moment aufsteigen und in den Frieden des Himmels zurückkehren könnnte. Ihre großen dunklen Augen, die über den hohen Wangenknochen besonders auffielen, waren beständig verwölkt, so, als hingen sie fernen Träumen nach. Aber die Krankheit verdarb ihre Schönheit: aus ihrem Mund hing die Zunge bis zum Kinn herab und gab ihr ein häßliches Aussehen.
Jeden Morgen stand Ra'if besonders früh auf, um seine Tochter zur Sonderschule zu bringen. Er versuchte, so früh wie möglich an der Bushaltestelle zu sein, damit seine Tochter einen Fensterplatz bekam und während der Fahrt einen freien Blick hatte auf die vorbeiziehende Landschaft. Dies war eine der wenigen täglichen Freuden des jungen Mädchens, und täglich wieder wartete sie gespannt auf die Fahrt mit dem Bus. Wenn er seine Tochter in der Schule abgegeben hatte, ging Ra'if zur Bushaltestelle zurück und fuhr in die Stadt; meistens erreichte er die Gerüstfabrik pünktlich, in der er arbeitete, seit die Soldaten seinen Laden geschlossen hatten. Sein Chef David Green kannte Ra'ifs Geschichte und machte auch kein Theater, wenn Ra'if einmal zu spät zur Arbeit kam. Einmal hatte er ihn, als er krank war, sogar zu Hause besucht und ihm selbstgemachte Quittenmarmelade mitgebracht.
Es war ein klarer Sommermorgen, und wie an jedem Morgen ging Ra'if früh zur Bushaltestelle. Als der Bus kam, beeilte er sich einzusteigen, und seiner Tochter einen Fensterplatz zu sichern. Dann sahen beide den müden Arbeitern zu, die in der Schlange standen, den Frauen, die mit Körben voller Feigen zum Markt fuhren, und den Alten, die sich auf den Weg zum Arzt machten. Langsam füllte sich der Bus mit Menschen. Wer keinen Platz mehr fand, setzte sich entweder auf die hinteren Trittbretter oder hielt sich an den ledernen Haltegurten fest, die am Innendach des Busses befestigt waren.
Bald setzte der Bus sich in Bewegung. Der alte Motor keuchte und langsam fuhr der Bus mit seiner schweren Last zum Stadtausgang. Wie an jedem Morgen hielten Soldaten den Bus dort an, und gerade wollten sie anfangen, die Passagiere zu kontrollieren, als der Blick des Kommandierenden auf Ra'ifs Tochter und ihre bis zum Kinn heraushängende Zunge fiel. Er wurde rot vor Wut — dies war sein erster Tag in einer ihm unbekannten Stadt, und er war überzeugt davon, daß das Mädchen ihn verhöhnen wollte. Mit Schrecken sah Ra'if die Wut des Soldaten und zog schnell seine Tochter in die Arme. Aber die Wut des Kommandierenden verrauchte nicht so schnell, und er gab dem Busfahrer den Befehl, zur nächsten Polizeistelle zu fahren. Er selbst fuhr hinter dem Bus her. Als sie dort ankamen, teilte er dem Dienststellenleiter mit, daß das Mädchen ihn beleidigt habe und bat ihn, die Passagiere festzuhalten, damit den Einheimischen ihr freches Benehmen ausgetrieben werde.
So kam es also, daß der Bus dort auf dem Platz vor dem Polizeigebäude in der sengenden Sonne stehen blieb. Nach etwa einer Stunde öffnete der Fahrer die Türen und bat darum, daß die völlig eingeschüchterten, beengten und durstig gewordenen Passagiere den Bus verlassen dürften. Bevor aber auch nur einer der Passagiere aussteigen konnte, hatten Polizisten den Bus schon umstellt und schrien den Busfahrer an, er solle sofort Türen und Fenster schließen. Der Fahrer wollte widersprechen, aber da schlug ein Polizist ihn mit seinem Knüppel und ein anderer schoß in die Luft, so daß die Menschen eilig die Busfenster schlossen.
Nachmittags war die Hitze in dem geschlossenen Fahrzeug nahezu unerträglich geworden. Die Passagiere, die zuvor gestanden und sich an den ledernen Haltegurten festgehalten hatten, wurden schließlich so schwach, daß sie übereinander auf den Boden fielen und dort, bewegungslos und nur noch halb bei Bewußtsein, liegen blieben. Heftiger Schweißgeruch füllte den Bus und drang den Eingeschlossenen in die Nase. Merkwürdig aber, daß kein Laut von ihnen kam. Nur das Geräusch ihres schweren Atems, dem langsam der Sauerstoff ausging, erfüllte den Bus wie das Atmen eines einzelnen großen Tieres, dessen Ende nahe ist. Nach so vielen Jahren der Besatzung wußten die Menschen, was sie zu erwarten hatten und keiner wagte es, zu revoltieren oder eine Anordnung der Polizei nicht zu befolgen. Einer nach dem anderen begann, sich seine schweißdurchtränkte Kleidung vom Leib zu ziehen. Jeder Gedanke an Konvention und Scham war aufgegeben. Alles, woran sie denken konnten, war frische Luft und ein Glas kaltes Wasser. Zuerst verloren die Kinder ihre Selbstkontrolle und fingen an, sich in die Hosen zu machen; der feuchte Gestank benebelte die Sinne der Passagiere. Schließlich gab es keine Zurückhaltung mehr und in kürzester Zeit floß der Boden des Busses über von Exkrementen.
Als Ra'if auch am späten Nachmittag noch nicht auf der Arbeit erschienen war, wurde David Green unruhig. Mit Vorahnungen erfüllt, stieg er in sein kleines Auto und fuhr zu Ra'ifs Haus. Nach der Arbeit des Tages war er müde, er war der Klagen seiner Arbeiter müde, die ihm von ihrem schweren Leben erzählten und er sehnte sich nach dem Tag, an dem er aufhören könnte zu arbeiten und in den Ruhestand gehen.
Als er die Straßensperre am Eingang der Stadt erreichte, erzählten ihm die Soldaten von dem Bus, der durch seinen langen Aufenthalt vor der Polizeistelle bestraft worden war. Sie lachten: „Was gehen dich die Fellachen an. Mische dich lieber nicht in solche Sachen ein. Das ist nichts für dich.“
Aber David Green fuhr zur Polizeistelle. Als er den Bus sah und seine von Schweiß und Urin beschlagenen Fenster, erklärte er dem Leiter, daß ein schrecklicher Irrtum vorläge. Er erzählte dem Polizisten von der Krankheit des Mädchens und der Zunge, die ihr aus dem Munde hing. Erst nach wiederholter Aufforderug akzeptierte der Polizist, daß man der Sache nachgehen solle und erlaubte ihm, in den Bus zu stiegen.
Als David Green den Bus betrat, traf ihn der Gestank von Kot und Urin; beim Anblick der nackten Menschen, die wie Leichname in diesem furchtbaren Schmutz lagen, verlor er das Bewußtsein. Als er wenig später wieder zu sich kam, fand er sich zwischen den nach Atem ringenden Körpern wieder. Er hörte den Lärm der Eisenbahnzüge seiner Kindheit wieder und sah seine Mutter und Schwester auf dem Boden liegen. In diesem Augenblick hielt der Zug und er sah SS-Soldaten den Wagen betreten.
Als der Polizist in den Bus stieg, sah er, daß das Mädchen tatsächlich krank war und daß ihr die Zunge unkontrolliert aus dem Mund hing. Er befahl, die Fenster zu öffnen und den Passagieren Trinkwasser zu geben; dann ließ er den Bus fahren. Zu seinem Erstaunen jedoch hatte er David Green in dem Bus nicht mehr finden können, und er informierte den Militärkommandanten. Eine Untersuchung an dessen Arbeitsplatz ergab keinen Aufschluß. Als man schließlich Verwandte des Verschwundenen ausfindig gemacht hatte, waren diese erstaunt zu hören, daß ihr Verwandter überhaupt am Leben sein sollte. Alles, was sie über ihn wußten, war, daß er das letzte Mal beim Einstieg in den Zug gesehen woren war, der ihn vor über vierzig Jahren in ein Vernichtungslager gebracht hatte. Seitdem hatte man nichts mehr von ihm gehört.
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