: Erinnerungen aus dem Jenseits
Das „Epitaph“, das Charles Mingus auf sich selbst komponiert hat, wurde aus seinen Noten und Notizen rekonstruiert und erstmals in befriedigender Form auf Platte aufgenommen ■ Von Carlo Ingelfinger
Charles Mingus, gestorben 1979, hat sich einmal als „Bastard“ bezeichnet. Als sehr hellhäutiger Schwarzer, im L.A.-Ghetto Watts bei seiner halbindianischen Stiefmutter erzogen, zwischen den Rassen, zwischen den Minderheiten. Als „Schwarzer“, als der er sich fühlte, erfuhr er die Diskriminierung der Weißen und der weißen Gesellschaft, manchem „brother“ wiederum war er nicht schwarz genug. Sein Leben lang hatte er ein heftiges Gefühl für Unrecht (und war selbst ungerecht), war Aufrührer aus ganz persönlicher Betroffenheit, ein Vulkan an Emotionen, oft unzufrieden mit sich, seinen Musikerkollegen, seinen Agenten und Plattenfirmen, mit dem ganzen „System“, unter dem er litt, ein zorniger Mann, der sich seiner genialen musikalischen Fähigkeiten bewußt und damit konfrontiert war, daß sein „Marktwert“, sein Einkommen und sein gesellschaftliches Ansehen außerhalb der Jazzszene dieser Bedeutung bei weitem nicht entsprach.
Mingus konnte kraft seiner Persönlichkeit und Musikalität — fast hypnotisch — ungeahnte Möglichkeiten bei seinen Mitspielern freisetzen. Er konnte sie aber auch zum Fiasko führen, wenn es ihm nicht gelang, seine eigenen widersprüchlichen Emotionen und Energien zielbewußt zu bündeln, sondern sich von ihnen zerreißen ließ.
Die erste Aufführung seines Epitaph, seiner grandios angelegten „Grabinschrift“, die er sich selbst zu Lebzeiten komponierte, wurde ein solches Fiasko. Das Konzert in der New Yorker Town Hall mit dreißig Musikern, für das er die aus Neukompositionen und darin integrierten alten Stücken konzipierte Suite geplant hatte, sollte im Herbst 1962 sein bisheriges Schaffen krönen. Aber schon die Vorbereitungen bekam Mingus, der sich auch noch jede Menge organisatorische Arbeit aufgehalst hatte, nicht in den Griff. Weiter in Verzug geriet er durch eine Plattensitzung im September mit seinem musikalischen (Über-)Vater Duke Ellington, dann verlegte seine Plattenfirma „United Artists“ das Konzert, auf dem Epitaph aufgenommen werden sollte, um fünf Wochen auf den Oktober vor.
Nun wuchs Mingus alles über den Kopf; er beschäftigte mehrere Arrangeure zur „Orchestrierung“ seiner Kompositionen, deutete musikalische Vorstellungen nur noch an, änderte ständig, so daß noch während des Konzerts Kopisten mit neuen Noten bei den Musikern auf der Bühne saßen. Die Tontechniker seiner Plattenfirma hatten nicht einmal Monitor-Lautsprecher für die Musiker aufgebaut; ab und zu fuchtelte einer in den Kulissen und bedeutete Mingus, doch bittschön den einen oder anderen Part noch einmal spielen zu lassen, man habe ihn nicht so recht aufs Band gekriegt... Kurz: Mingus' Ambition ging in einem gigantischen Tohuwabohu unter, nur ein Bruchteil des unfertigen Epitaph wurde gespielt, von dem wiederum nur ein Bruchteil auf der von „United Artists“ noch zusammengeschusterten Platte erschien. Mingus nahm Epitaph nie auf, auch als er in seinem letzten Lebensjahrzeht wieder die Möglichkeit hatte, mit großen Ensembles zu arbeiten.
In Mingus' Nachlaß fanden sich Teile des Manuskripts, zerstückelt, zusammengeklebt, mit Tonbandfetzen überklebt, unleserlich , voll widersprüchlicher Instruktionen. Gunther Schuller, Komponist, Dirigent und Theoretiker der Third Stream Music (einer Verbindung zwischen Jazz und moderner Klassik) der schon vor dreißig Jahren mit Mingus zusammengearbeitet hatte, machte sich an die mühsame Restaurierung und Ergänzung. Für ihre Soli konnten seine Musiker (einige von ihnen waren schon 1962 dabei gewesen) zum Teil auf anschauliche Anregungen zurückgreifen, die Mingus auf die Partituren geschrieben hatte: „Spiel wie ein alter Kirchenmusiker, der den Prediger begleitet, und nimm die Zurufe der Gemeinde auf“, riet er zum Beispiel dem Pianisten. Andere Bemerkungen konnten nur jene verstehen, die 1962 spielten, aber jetzt nicht in dem von Schuller zusammengestellten Orchester saßen: „Duke's Band, remember?“ fragt Mingus Clark Terry, „wie 1942 im Downbeat-Club“ sollte Dannie Richmond trommeln, der Trompeter Ernie Royal beim Blasen an zu Hause denken: „How's the family, Ernie?“
Soweit also die verwickelte Vorgeschichte, noch umfassender geschildert im exzellenten Begleitheft zu den CDs, in dem Schuller über seine Rekonstruktionsprobleme berichtet und die Partitur analysiert.
1989 konnte Schuller dann das magnum opus von Mingus uraufführen: Ein Monument. Eine Suite in 19 Segmenten, über zwei Stunden lang, in der Mingus, wie nicht anders zu erwarten, alle Facetten seiner Musik aufscheinen läßt: Seine Vorliebe für triumphierende Soli, die aus wohlorganisiertem Chaos aufsteigen (John Handy, Mingus-Gefährte in den fünfziger Jahren, mit seinem warmen Ton auf dem Altsax), sein Bluesfeeling (Peggy's Blue Skylight mit John Abercrombie als Solisten), seine Verbundenheit mit und seine schöpferischen Anleihen bei Duke Ellington (in Freedom zitiert Mingus Happy Go Lucky Local, in Ballad lassen die Trompeter Randy Brecker und Wynton Marsalis den „plunger“-Sound von Ellington- Trompetern wie Clark Terry wieder aufleben), die Methode, aus der Abwandlung eines Standards (Started Melody von I can't get started) ein ruhiges, fast statisches Werk mit Raum für viele Solisten zu schaffen (Karl Berger trägt mit seinem glockenspielartig geschlagenen Vibraphon eine bei Mingus selten zu hörende Klangfarbe bei), sein übergreifendes Verständnis und Verbinden von Jazztradition und Jazzmoderne, auf die er in Monk, Bunk & viceversa (Osmotin') schon im Titel anspielt und die „Osmose“ dann überzeugend umsetzt, die Freude an explosiven Soli, wie sie Trompeter Jack Walrath und Tenorsaxophonist George Adams, Mitglieder seiner letzten Gruppen, auch hier spielen, Raum für wenigstens einige Kollektivimprovisationen, die die Arbeit seiner kleinen Gruppen oft so kreativ machten.
Nie so deutlich bei Mingus gehört habe ich den Hang zur modernen Klassik. Moods in Mambo ist ein ungewöhnlich instrumentiertes Kammermusikstück, The Children Hour of dreams weist auf Komponisten wie Bartok und Ravel, wie Gunther Schuller erläutert. Auch Mingus' Hang zum Pathos, zu mächtig sich auftürmenden Akkorden wie in Noon Night, ist mir neu.
Der schönste Satz des Werks gelang Mingus — und Dirigent Schuller samt der Band — mit Self Portrait/Chill of death: Der Zusammenklang von rund hundert Kurz-Soli, Orchestrierung und Dynamik des 11-Minuten-Segments hört sich an wie eine distanzierte, klare Beschreibung von Mingus musikalischen Vorlieben, so, wie er sie in seinen Kompositionen und Bands ausdrückte. Fast unglaublich bei dem schnellen Wechsel der oft überlappenden Soli: Das Stück ist ein geschlossener, nicht überladener, nie hektischer, dichter Nukleus der ganzen Suite.
Epitaph: Ein Monument, dem zur Vollkommenheit nur der Mann Mingus selbst zu fehlen scheint; dem zwangsläufig der emotionale Aufschrei fehlt, der die in den Gruppen des Bassisten so oft aufgebauten Spannungen und Reibungen löste. Als unvermeidlicher kleiner Mangel der Aufführung könnte die „Werktreue“ empfunden werden, die respektvolle Disziplin, die selbst Solisten manchmal der Komposition zu schulden glauben, wenn sie vorsichtig und zurückhaltend improvisieren. Aber als Epitaph ist sie Mingus' würdig und macht seinen Verlust schmerzlich bewußt.
Charles Mingus: Epitaph , CBS 466631 2
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