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Papier und Demokraten fehlten

■ Neues Buch über den Aufbau der Justiz im Lande Bremen ab 1945

Mindestens zwei Parallelen sind verblüffend. Heute bestimmen in den 'Neuen Ländern' fehlende oder funktionierende Kopierer und Telefonleitungen das Tempo der Neuorganisation von Verwaltungen und Wirtschaft entscheidend mit. Nach Kriegsende spielten beim Neuaufbau der Gerichte in Bremen zeitgemäß Schreibpapier und Tinte — und sogar Fahrradschläuche eine vergleichbare Rolle. Und zweitens damals wie heute die Frage: Woher motiviertes und qualifiziertes Personal nehmen, wenn fast alle auf allen Dienst-Ebenen überzeugte, jedenfalls aber doch höchst pflichttreue Diener des alten Regimes waren?

Über die „Organisation der ordentlichen Gerichte in der Enklave Bremen“ hat der heute 75jährige Dr. Dr. Walther Richter, pensionierter ehemaliger Präsident des Bremer Oberlandesgerichts, ein Buch geschrieben und es zusammen mit dem Herausgeber Justizsenator Volker Kröning der Presse vorgestellt.

Für Nicht-JuristInnen ist sicher das fünfte Kapitel „Allgemeine Schwierigkeiten beim Wiederaufbau“ am interessantesten.

hier die Grafik

„Enklave vor 1945“

Dazu muß man wissen, daß am Anfang, nach 1945, ein gewaltiges Verwaltungs-Durcheinander war. Die „Enklave Bremen“ (vgl. Skizze) war zunächst viel größer als das heutige Zwei-Städte-Bundesland und unterstand wechselnd britischer und US-amerikanischen Militärregierungen. „Wo die Sieger einmarschierten, schlossen sie die Gerichte; das Gerichtspersonal wurde nach Hause geschickt oder verhaftet“, beschreibt Kröning in seinem Vorwort die Ausgangslage. Der zähe und schwierige Neuaufbau der Amts- und Landgerichte hatte mit so banalen wie entscheidenden Problemen zu kämpfen: Es gab kaum Schreibpapier, sodaß die Rückseiten alter Schriftsätze oder ausgesonderter Akten beschriftet wurden. Weil es kaum Heizmaterial gab, mußten die Justizangehörigen nicht nur frieren, sondern konnten oft nicht einmal Urteile und Beschlüsse niederschreiben, weil die Tintenfäßchen eingefroren waren. Die elementarsten Hilfsmittel wie Gesetzestexte und Kommentare waren begehrte und zerfledderte Mangelware. Ehe- und Jugendgerichtsgesetze warten zeitweilig überhaupt nicht vorhanden. Weil die Städte Bremen und Wesermünde weitgehend zerstört waren, wohnten viele Justizbedienstete in den umliegenden Landgebieten. Fahrräder waren Kostbarkeiten, Schläuche und Reifen Gold wert, und die Verkehrsverhältnisse so schwierig, daß manche Richter im Dienstzimmer schliefen und nur zu den Wochenenden nach Hause fuhren. Autor Walther Richter erzählt anschaulich, wie nach einem monatlichen Kassensturz in Wesermünde die Bediensteten aus Gebühren und Bußgeldern bezahlt wurden, wie die Leihgabe von zwei Aktenregalen einen ganzen Schriftswechsel in Gang setzte.

Ausgebildete Richter ohne NSDAP-Parteibuch waren Mangelware. Die englischen Besatzer im Unterweserraum waren, so zitiert Richter, „pragmatisch“: „Abgesehen von Spitzenpositionen, die alle mit Nichtnationalsozialsiten besetzt wurden, 'improvisierte die britische Militärregierung zunächst mit einem Minimum an Entnazifizierung. Eine Entlassungswelle blieb aus.'“ Bis 1948 konnte in der britischen Zone „der Bedarf an Richtern weitgehend gedeckt werden.“ Die Amerikaner, für Bremen zuständig, sahen das radikaler: Jede formelle Zugehörigkeit zur NSDAP schloß eine Beschäftigung bei Gricht aus. Autor Richter findet das „schematisch“ und lobt bei den nicht so pingeligen Briten, daß es denen „um die Verhinderung eines allgemeinen Chaos ging“.

Aus einer komplizierten Gebiets- Struktur mit drei Landsgerichts- Bezirken wurde schließlich die kleinere „Enklave Bremen“. Bremen verzichtete weise auf umliegende agrarische Gebiete, bekam aber schließlich schließlich ein einenes Oberlandesgericht. Der Pressetext des Senators befaßt sich fast eingehender als das Buch mit dem Problem „einer neuen Justiz, in der demokratisch gesinnte Männer und Frauen die Rechtsprechung ausüben“. Die Verlags-Werbung ist vom Schwerpunkt her irreführend. In dem höchst detailgenauen und akribisch zusammengestellten Band geht es mehr um Strukturen, personelle und verwaltungstechnische Verflechtungen und Entwicklungen. Für JuristInnen sicher eine Fundgrube. S.P.

Steintor-Verlag, DM 19,80

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