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Unter die Haut

„König Lear“ — Johann Kresniks neues Tanztheater  ■ Von Lore Kleinert

Das Reich, das Johann Kresnik seinem König Lear zumißt, ist von grauen Mauern eingefaßt, mit Schubladen darin wie in einem überdimensionalen Leichenkeller. In der Welt, auf welche die geöffnete Rückwand den Blick freigibt, fällt nur noch Schnee. Dort sind Menschen in Käfige aus Netzen gepfercht; sie schnappen nach den Fetzen, mit denen der alte Lear sie füttert. Später formieren sie sich zu einer Gruppe von Flüchtlingen, die — Pässe im Mund, Koffer in den Händen — die Bühne mit dem Tanz der Flucht und der Angst füllen, bis sie buchstäblich durchdrehen. Noch später tragen sie Uniformmäntel: Soldaten, an die Wände gelehnt, wartend. Mal drehen sie an winzigen Spieluhren, dann werfen sie riesige rote Planken quer über die ganze Breite der Bühne — Blutspuren? Am Ende sind sie alle gezeichnet, mit schwarzen Spuren in den Gesichtern, während einer, der Sieger, sich mit Gold beschmiert.

Auch die Töchter des König Lear ändern ihre Erscheinung, ohne sich doch wirklich zu verändern. Als schwarz verschleierte Revolutionswächterinnen hetzen und schinden sie die Flüchtlinge; in blutroten Lackkleidchen zelebrieren sie Verführung und Zurichtung durch den Vater und alle folgenden Männer. Die Kleider sind wichtig: Wenn sich Goneril und Regan wie Schlangen ineinander verknoten, stecken sie in schwarzen, dehnbaren Schläuchen, und wenn sie gebären, dann steckt in diesen Schläuchen jeweils ein zweiter Tänzer, der langsam, kopfunter, hervorgleitet und sogleich in einen Sack gesteckt wird — nur eines von Kresniks grausigen Bildern über das Ungeheuer Mensch. Die dritte Tochter, Lears Liebling Cordelia, ist dem Vater nur deshalb näher, weil der Inzest beide von Anfang an in einen grotesken Taumel verstrickt. Der Vater lockt sie herunter von der Wand, an der sie klammert, in einen Tanz der Gier und des Mißbrauchs. Diesen Tanz läßt der Choreograph an diesem Abend nicht mehr enden.

Alle sind darin verstrickt, und so ist die Geschichte des König Lear nicht eine Geschichte von oben nach unten, vom alten, verrückten Herrscher, der Land und Töchter und Leben verliert. Er hüllt sich in das gepunktete Kinderkleid der Tochter, das er ihr auszog. Wenn er die lange, rote Planke stützt, auf der sie (Regine Fritschi) am Ende zu ihm kriecht, begreifen wir etwas von den Blutspuren, denen zwischen den Geschlechtern, den Generationen, den Menschen. Vater und Tochter lecken am gleichen Eisblock: eine Berührung ist nicht mehr möglich. Alle Hüllen sind austauschbar, und die verletzliche Haut des Menschen ist nicht davon ausgenommen, selbst um den Preis seines Lebens.

Kresnik erzählt, wie schon so oft, davon, daß Macht immer Mißbrauch ist und immer alle befleckt, gleich, ob die Geschichte sie begünstigt oder nicht, gleich, ob sie die „richtige“ Wahl treffen. Wenn der nackte Lear (Harald Beutelstahl) in einem riesigen Würfel aus Metallstäben von seinen Töchtern hinaus in den Schnee gerollt wird, zeigt er bei jeder Drehung eine andere heillose Grimasse. Krone und Zepter wechseln, werden so austauschbar wie ihre Träger, und Schmerz liegt ebenso nahe am Ekel wie an der Wollust. Kresniks Ensemble variiert dieses Thema, indem die Tänzer sich ihre jeweiligen Hüllen vom Leibe ziehen und als Zeichen um so bewußter machen. Sie gehen sich unter die Haut, Gloster und seine Söhne in homoerotischer Umschlingung, Lear als giftig mümmelnder Greis in übergroßen Unterhosen und Hosenträgern — Marc Reisers Hausmeister-Karikatur als König.

Shakespeares Stück hält diesen harten Zugriff aus. Seine großen Geschichten, deren Worte so wenig von ihrer Wirkung verloren haben, können auch ganz ohne Worte erzählt werden, übersetzt in Bewegung, in die Sprache der Körper. Johann Kresniks choreographisches Theater bringt die Körper zum Sprechen, läßt sie von Gewalt und Geilheit, von Macht und Untergang erzählen, auf immer neue Weise, auch dieses Mal wieder. Von König Lears Höllenfahrt, mit ihrem Anfang und Ende und Shakespeares Höhepunkten, bleibt nicht viel, weniger noch als bei Kresniks Fassung des Macbeth. Die „blutige und leere Erde“ (Jan Kott) bleibt zurück, und mehr bedarf es nicht, denn Johann Kresniks Tanzgeschichte des Mißbrauchs hat keinen Anfang und kein Ende.

Serge Webers Musik assoziiert dem Bühnenraum (der unter einer etwas beliebigen Lichtregie leidet) einen zusätzlichen, vielfarbigen Klangraum. Mit alten englischen Balladen, dann wieder mit stark rhythmisierten Klängen durchkreuzt er die tänzerischen Muster, so daß die Aktionen immer wieder neu strukturiert sind. Außerdem greift der Choreograph auch in dieser Produktion wieder auf den Bilderfundus der deutschen Volksmärchen zurück. Das Volk des Lear: kauernde Zwerge, für die die Tänzer in braune Säcke gesteckt wurden. Mal peitscht der König sein Volk, mal legt er sich darauf, doch immer bleibt es zu Füßen der Mächtigen geduckt, unheimlich und gesichtslos. Das verleiht den vielfach zelebrierten männlichen Kraftposen und den vordergründig- politischen Bezügen auf Wüsten- und Winzerkrieg einen klugen, tiefpessimistischen Hintergrund: die Gewalt steckte bereits in den Kinderträumen, schon die Märchen erzählten von Blut und Macht. Und weil wir alle sie gehört haben, werden wir von Kresniks gewaltsamen Bildern auch diesmal wieder in den Bann gezogen (oder auch abgestoßen), tiefer geängstigt und angerührt, als alle Friedensappelle es vermögen.

William Shakespeare: König Lear . Choreographie: Johann Kresnik. Mit Harald Beutelstahl und Regine Fritschi. Bremer Theater. Nächste Aufführungen: 18. und 26. Januar

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