: Die Menschen bewegen sich
■ Deprimierend und hoffnungsvoll zugleich — die Gesellschaft ist bewußter als die Politik KOMMENTARE
Es ist heute anders als während der Friedensbewegung in den achziger Jahren. Die Menschen sind schockiert. Der Krieg in seiner ganzen Sinnlosigkeit und Grausamkeit steht ihnen nun unmittelbar vor Augen und sie sind betroffen, verängstigt, aber sie bewegen sich auch. Der Protest gegen Kriegslogik und Rüstungswahn der Supermächte war seinerzeit — trotz der gewaltigen Massendemonstrationen — immer noch im Protestmilieu der Bundesrepublik (und in spezifischer Weise in dem der DDR) hängengeblieben.
Heute kommen die Innenstädte nicht zur Ruhe, weil Schülerinnen und Schüler massenhaft ihren Protest und ihre Angst auf die Straße tragen. Seit Tagen ist in Berlin nicht mehr an geregelten Unterricht zu denken, und das ist gut so. Im Moment kann man auf der Straße mehr lernen als in den Klassenzimmern. Heute erinnern sich alte Menschen mit Tränen in den Augen an die Bombardements, die sie selber noch erlebt haben. Die Aktionen der Kinder, die für kurze Zeit auf den Bahnhöfen verharrenden U-Bahnen drücken aus, was die Menschen fühlen — ihre Ohnmacht, ihr Grauen und ihr Aufbegehren gegen die sinnlose Logik der Bomben.
Was alle Umfragen der letzten Wochen ergaben — daß eine große Mehrheit der Bevölkerung gegen den Krieg, auch gegen diesen Krieg als Mittel der Politik ist — wird in diesen Tagen zur öffentlichen Manifestation. Es ist wie ein Erwachen aus dem schönen Traum vom ewigen Frieden, der durch die Ereignisse in Osteuropa, durch den Zusammenbruch des Ost/West-Drohsystems in den letzten Jahren genährt wurde. Auch die Gewerkschaften beteiligen sich diesmal von vornherein am Protest und eröffenen ihm damit potentiell eine neue Dimension. Die Erklärung der IG Metall von gestern ist eine Aufforderung an ihre mehr als drei Millionen Mitglieder, den Protest täglich in die Öffentlichkeit, aber auch in die Betriebe hineinzutragen. Es ist kein Streikaufruf, kein Generalstreik, aber es ist ein Aufruf, eine Ermutigung zum eigenverantwortlichen Handeln aller, die etwas tun wollen.
Während sich die offizielle Politik in Bonn im politischen Leerlauf dreht — die Bundestagspräsidentin Süßmuth wollte gestern fast panisch verhindern, daß Vera Wollenberger ihre Redezeit auf dem Podium schweigend nutzte und das Parlament zum Schweigen und Nachdenken aufforderte —, während das offizielle Bonn nicht einmal jetzt zu schweigendem Nachdenken in der Lage ist, werden die wirklichen Probleme der Menschen in den Schulen, auf den Straßen und in den Betrieben verhandelt. Die Gesellschaft ist bewußter als die Politik. Das ist deprimierend und hoffnungsvoll zugleich. Martin Kempe
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