: »Können uns das Ausmaß der Zerstörung vorstellen«
■ Irakische Oppositionelle werden wie der Rest der Welt Augenzeugen der Bombardements ihrer Heimat/ taz-Interview mit einem irakischen Studenten aus der Opposition in Berlin/ »Militäranlagen liegen mitten in Wohngebieten«
Die irakische Studentenvereinigung Deutschlands wurde 1959 in Mainz gegründet und hat sich seit Ende der siebziger Jahre zu einer von mehreren Oppositionsgruppen im Ausland entwickelt. Die taz sprach mit Kamal, der als Vorstandsmitglied in einer irakischen Studentenvereinigung in Berlin arbeitet.
taz: Glaubt man der Kriegsberichterstattung von CNN und den Angaben der US-Generäle, gibt es im Irak keine Zivilbevölkerung, sondern nur Raketenabschußbasen und Kriegsfabriken...
Kamal: Diese Berichterstattung ist ungemein schlecht. Nur können wir sie eben anders einschätzen. Wenn CNN zum Beispiel berichtet, die Fernmeldezentrale in Bagdad sei bombardiert worden, und nicht von Toten erzählt, dann wissen wir, daß zwanzig, dreißig Meter von dieser Fernmeldezentrale entfernt lauter Wohnhäuser stehen. Denn die Zentrale befindet sich inmitten eines Wohngebietes. Das habe ich vor Augen, wenn ich diese Meldung höre.
Zweites Beispiel: Das Verteidigungsministerium wurde angegriffen. Dann denke ich sofort an das Gesundheitszentrum mit mehreren Krankenhäusern, das dreihundert Meter weiter steht. Und wenn CNN meldet, daß alle paar Sekunden Bomben fallen, dann können wir uns das Ausmaß der Grausamkeit ungefähr vorstellen.
Wenn die US-Militärs stolz vermelden, man habe bereits am ersten Kriegstag Tausende Bomben auf Iraks Hauptstadt Bagdad abgeworfen, dann kann ich mir kaum vorstellen, daß dort noch ein einziges Haus steht...
Ich will da jetzt nicht spekulieren, ob 50, 80 oder 90 Prozent der Stadt zerstört sind oder wie präzise die Amerikaner ihre Bomben abgeworfen haben. Eines ist klar: Im Irak wurden alle Industrieanlagen inmitten oder in der Nähe von Wohnsiedlungen errichtet — auch die militärischen. Auch der Atomreaktor, der ja auch zu den militärischen Einrichtungen gehört, befindet sich in einem Vorort von Bagdad. In der Stadt gibt es zahlreiche militärische Einrichtungen. Das Regime hat sie damals in der Annahme gebaut, daß andere Länder sich scheuen würden, Anlagen in Wohnsiedlungen anzugreifen. Aber die Rechnung ist nicht aufgegangen — und das bedeutet jetzt, daß die Zivilbevölkerung am schlimmsten betroffen ist.
Es werden Meldungen verbreitet, nach denen irakische Offiziere Saddam die Gefolgschaft verweigert haben oder das demnächst tun werden. Gibt es dafür in ihren Augen realistische Anzeichen?
Erst mal ist das reine Spekulation. Im Irak ist nicht das Militär der entscheidende Machtfaktor, sondern Saddam Husseins Geheimdienst. Solange der unangefochten agiert, kann er auch das Militär kontrollieren. Da gibt es eigene Abteilungen.
Die Aktivitäten dieses Geheimdienstes beschränken sich nicht auf den Irak, sondern gehen auch in das Ausland. Inwieweit haben Sie das in Ihrer Arbeit gespürt, sind Sie in den letzten Jahren behindert oder bedroht worden?
Wir sind nicht direkt vom Geheimdienst behindert worden. So dumm sind sie nicht, daß sie zum Beispiel unsere Veranstaltungen stören oder verhindern würden. Sie versuchen statt dessen, loyale Gruppen zu organisieren. Natürlich werden Leute eingeschüchtert.
In Berlin wird zur Zeit fast rund um die Uhr gegen den Golfkrieg demonstriert, blockiert und protestiert. Die Analysen der Kriegsgegner sind dabei sehr unterschiedlich. Wie schätzen Sie diese neue Bewegung hier ein?
Eines vorweg geschickt: Wir haben von Anfang an gesagt, Nein zur Invasion in Kuwait, Nein zur Annexion. Wir glauben an das Selbstbestimmungsrecht aller Völker — auch des kuwaitischen Volkes. Der Irak muß sich daher aus Kuwait zurückziehen. Was die Protestbewegung hier in Deutschland betrifft, so sind wir ungemein überrascht. Wir haben jahrelang, seit 1978, sehr aktiv auf die Situation im Irak aufmerksam gemacht. Die Resonanz war immer extrem schlecht, auch während des iranisch-irakischen Krieges. Irgendwann haben wir beschlossen, daß wir uns die Demonstrationen sparen können, weil ohnehin keiner kommt. Daß jetzt so viele Leute gegen diesen Krieg sind, ist auch aus unserer Sicht toll.
Schwingt da auch etwas Verbitterung mit, weil das Ausland und die dortigen Friedensbewegungen sich jahrelang überhaupt nicht um die Situation im Irak gekümmert haben?
Nein, man darf jetzt nicht verbittert sein, sondern muß sehen, das Beste daraus zu machen. Je mehr Leute über diesen Krieg geschockt sind, desto größer vielleicht die Chance, mehr Öffentlichkeit und Engagement für die Menschenrechte zu erzielen. Desto größer ist auch die Chance, Druck auf die Regierungen auszuüben — auch auf die deutsche —, einen Waffenstillstand zu erreichen. Wobei man eines sehen muß: Selbst wenn Saddam Hussein auf einen Waffenstillstand eingeht, also als Staatschef überlebt, geht für uns der Kampf gegen den Diktator Saddam Hussein weiter. Und wir hoffen dann auf mehr internationale Unterstützung. Unser Ziel ist die Herstellung von demokratischen Strukturen im Irak.
Sind die Bombenangriffe auf Israel letzte Verzweiflungsschläge, um die arabisch-amerikanische Allianz zu durchbrechen? Oder kann Hussein noch gezielter und massiver Israel angreifen?
Mit Sicherheit zielt er darauf ab, diese Allianz zu durchbrechen und auch mehr Solidarität in den arabischen Ländern zu bekommen. Deswegen beruft er sich ja so energisch auf den Islam, obwohl der mit dem Islam am allerwenigsten im Sinn hat. Die islamische Opposition im Irak hat er auf brutalste Weise unterdrückt und zerschlagen. Er will Israel und die Religion miteinander verbinden und damit eine für ihn profitable Destabilisierung der arabischen Region erreichen.
Ist Ihrer Ansicht nach der diplomatische Verhandlungsspielraum vor Beginn des Krieges voll ausgenutzt worden?
Nein, absolut nicht. Es hätte einige andere Alternativen gegeben. Man hätte weiter auf das Embargo setzen müssen. Es begann zu wirken; einen Tag vor Kriegsausbruch habe ich einen Anruf von meiner Schwester aus Bagdad bekommen. Zum ersten Mal hat sie gesagt: Die Lebensmittel werden knapp. Das hatte sie vorher nie gesagt. Zweitens hätte man den Menschen im Irak die Chance geben müssen, sich zu organisieren. Die Opposition im In- und Ausland hätte eine Chance haben müssen. Aber das war nicht im Sinne der Amerikaner. Was die diplomatische Ebene betrifft: Ich bin kein Freund der arabischen Herrscher, aber man hätte, um einen Krieg zu verhindern, eine arabische Lösung unterstützen müssen.
Eine arabische Lösung hätte eine Nahost-Konferenz beinhaltet, auf der auch die Palästinenserfrage auf der Tagesordnung gestanden hätte. Ein anderes Volk, das nicht nur unter Saddam Hussein brutal unterdrückt wird, sind die Kurden. Muß eine Nahost-Konferenz Ihrer Meinung nach auch die Kurden miteinbeziehen?
Auf alle Fälle. Im Nahen Osten gibt es zwei wichtige Probleme. Das eine ist die Zukunft der Palästinenser, das andere die der Kurden.
Im Londoner Exil bereiten sich irakische Oppositionelle bereits auf die Bildung einer Interimsregierung nach dem Sturz oder der Niederlage von Saddam Hussein vor. Wagen Sie, schon so weit zu denken?
Die aktuelle Berichterstattung über die irakische Opposition hängt wohl eher mit dem Bestreben zusammen, sie als politische Kraft und Alternative im Ausland akzeptabel zu machen. Zwischen dem 2. August (Tag der irakischen Invasion in Kuwait) und dem 15. Januar war die irakische Opposition für die Medien tabu. Auch die taz hat das nicht allzusehr verfolgt. Man konnte nirgendwo überhaupt von der Existenz einer irakischen Opposition lesen oder hören. Ich glaube, vor allem der Westen hat ja lange gehofft, daß man sich mit Saddam arrangieren kann, falls er sich aus Kuwait zurückzieht. Genscher, Kohl oder auch Mitterrand haben sich immer wieder so geäußert. Dann wären wir als Opposition natürlich wieder völlig uninteressant gewesen. Wir formulieren unsere Analysen und Forderungen autonom vom Westen. Ob man nun schon über die Zeit nach Saddam Hussein nachdenken kann? Ich denke schon. Das sind Oppositionelle, die noch Kontakt zur Basis im Irak haben — auch wenn die nicht so groß ist. Das Gespräch führte
Andrea Böhm
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