: »Wir machen jetzt ein Nahost-Tagebuch«
■ Wieder normaler Unterricht in Berlins Schulen/ Auch im Steglitzer Fichtenberg-Gymnasium war der Krieg trotzdem Thema
Berlin. Die 30.000 Schüler und Schülerinnen, die in den vergangenen Tagen mit Schulboykott und Demonstrationen gegen den Krieg am Golf aufbegehrten, drücken seit gestern wieder brav die Schulbank. Auch im Steglitzer Fichtenberg- Gymnasium, wo die Mehrzahl der rund 700 Schüler in der vergangenen Woche auf der Straße war, ist seit gestern wieder Ruhe eingekehrt. »Wir machen wieder ganz normalen Unterricht«, erklärt die Schulleiterin Marianne Brüning gegenüber der taz. Die Lehrer seien aber darauf hingewiesen worden, den Krieg am Golf im Unterricht als Thema zu berücksichtigen.
»Wir haben heute im Deutschunterricht beschlossen, daß wir jede Stunde eine Art Tagebuch führen und aufschreiben, was im Nahen Osten passiert«, erzählt eine 13jährige Schülerin der 8. Klasse in der Pause. Ein paar Schüler aus der 7. Klasse berichten, daß sie gerade im Religionsunterricht Gedichte vorgelesen hätten: Sag nein von Wolfgang Borchert und 2003 von Erich Kästner. »Außerdem haben wir Friedenslieder gesungen, und unsere Lehrerin hat dazu Gitarre gespielt«, erzählt ein Schüler und zählt als Lieder Frieden schaffen ohne Waffen, Blowing in the Wind und Give Peace a Chance auf.
Die Schüler einer 13. Klasse, die in der kommenden Woche Abitur haben, berichten, daß sie über den Fernsehbericht zu biolgischen Waffen, der am Sonntag abend von der ARD ausgestrahlt worden war, diskutiert hätten. Biologische und chemische Waffen sind auch im Chemiekurs einer 12. Klasse Thema. Die Schüler wollen wissen, wo sich die Stoffe im Organsismus ablagern und wie sie wirken. Ein Schüler erkundigt sich, wie eine Gasmaske funktioniert. Die Chemielehrerin versucht alle Fragen zu beantworten. Zum Schluß liest eine Schülerin vor, was im Chemielexikon von »Römpps« zu chemischen Kampfstoffen steht. Das Fazit der Schüler: Römpps' Darstellung sei »zu abschwächend«, weil in dem Lexkion gar nicht gesagt werde, »wie die Waffen wirken«. Im Erdkundeunterricht einer achten Klasse steht die »Entwicklung des Staates Israel« auf dem Tagesplan.
Transparente an der Fassade des Schulgebäudes und im Foyer zeugen davon, daß auch die in der Schule gebliebenen Pennäler in der vergangenen Woche nicht untätig waren: »Auch in der Wüste kann man ins Gras beißen«, lautet eine in Kinderhandschrift geschriebene Losung. Andere Plakate wie »Pas de sang pour du pétrole« wurden wohl im Französischunterricht geschrieben.
Im Foyer sind auf einer großen Pappe mehrere Zeitungsartikel der taz über die Rüstungsfirmen, die den Irak belieferten, aufgeklebt. »Schreibt Prostestbriefe an die Firmen«, lautet die Aufforderung. Die Adressen der deutschen Firmen wie Daimler-Benz, Siemens Aktiengesellschaft und AEG Aktiengesellschaft sind mit Filzstift danebengeschrieben. Außerdem haben die Schüler des Fichtenberg-Gymnasiums schon zahlreiche Brief an Chemiefirmen und den Bundestag geschrieben. In einem der Briefe heißt es: »Warum denken Sie nicht an das Volk? Warum unterstützen Sie Hussein, obwohl Sie sehen, wie viele Menschen dagegen demonstrieren? Warum plagt Sie nicht Ihr Gewissen? Warum denken Sie nicht an die Angehörigen der Toten? Und das alles nur wegen Geld?«
Der Sprecher der Schulverwaltung, Erichson, bestätigte gestern gegenüber der taz, daß der Unterrichtsbetrieb in allen Schulen wieder »normal« verlaufe. Den Schulen sei freigestellt, an der Schule einen eintägigen Projekttag zum Golfkrieg zu veranstalten. plu
Die Landeschülervertretung weißt darauf hin, daß die Vollversammlung der Schüler zur Vorbereitung der »selbstbestimmten Projekttage« nicht heute, sondern morgen um 17 Uhr in der Badenschen Straße 29 stattfindet.
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