: Ein Berg von 1,2 Millionen Briefen
■ Seit gestern früh streiken die 800 Beschäftigten des Bahnpostamtes und einiger anderer Postämter im Ostteil/ Sie fordern eine nachträgliche Teuerungszulage für 1990 in Höhe eines Monatsgehalts
Berlin. Auf dem Postamt am Hauptbahnhof stapeln sich die vorläufig auf Eis gelegten Briefe und Pakete. Der Bezirkssekretär der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) Harry Sommerfeldt schätzt, daß in den 60 Waggons, die in den letzten 24 Stunden in Berlin nicht abgefertigt wurden, rund 1,2 Millionen Briefe liegen. »Da könnten noch ein paar Millionen dazukommen, wenn sich die Bonner Arbeitgeber nicht zu fairen Verhandlungen bequemen.« Die Postgewerkschaft verlangt für die Ostkollegen eine nachträgliche Teuerungszulage für 1990 in Höhe eines Monatsgehaltes.
Seit gestern früh streiken nicht nur die 800 Beschäftigten des Bahnpostamtes und des normalerweise rund um die Uhr geöffneten Postamtes 1017, sondern auch die Postgewerkschafter in der Innenstadt und in Pankow. Vor allen Ämtern des Bezirks Mitte und Pankow stehen die Streikposten und verteilen um Verständnis werbende Flugblätter. »Wir würden uns lieber einigen, als streiken.« Vielen Gewerkschaftern ist flau im Magen, denn »wenn sich die Arbeitgeber schon jetzt so stur stellen, wie hart wird dann die Auseinandersetzung um das Rationalisierungsschutzabkommen werden«.
Fortgesetzt haben gestern auch die 450 Mitglieder des Deutschen Postverbandes (DPV), der Gewerkschaft des Post- und Fernmeldepersonals im Deutschen Beamtenbund, ihren Ausstand in Hellersdorf. Ausgeweitet wurde der DPV-Streik auf die Hauptpostämter 58 und 17 in Prenzlauer Berg. Von den insgesamt 20.000 in Berlin beschäftigten Postlern und Telefonisten streikten gestern rund 2.500.
Während Harry Sommerfeldt davon überzeugt ist, daß die Mehrheit der Berliner Bevölkerung Verständnis für die Forderungen der Gewerkschaft aufbringt, berichten Streikposten oft das Gegenteil. Obwohl die Gewerkschafter nichts dafür können, werden sie für die »Schneckenpost« verantwortlich gemacht. Die Post soll erstmal den Service verbessern, hören sie, anstatt den Service fast völlig einzustellen. Ausgetragen werden momentan nur dringliche Telegramme, Zeitungen und wie Sommerfeldt sagt »Tiere in Versandkartons«.
Im Streiklokal am »Café am Fernsehturm« am Alexanderplatz stößt diese Kritik aber auf offene Ohren. An der Personalknappheit habe sich seit der Wende nichts geändert, sagt ein Mitarbeiter verbittert. »Bei einem Monatsverdienst von 800 bis 1.200 Mark geht niemand gerne zur Post.« Am miesesten bezahlt würden die Briefträger, modern Postzusteller genannt. Trotz eines Dienstes von vier Uhr morgens bis 16 Uhr verdienen sie gerade 400 Mark im Monat. Und sie haben mehr zu tun als früher, denn seit der Wende habe das Postaufkommen zugenommen, der Stellenzuwachs sei aber ausgeblieben. aku/dpa
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