: Zu dick und zu hoch fürs Haus
■ »Die englische Geliebte« — Ein Rededrama von Marguerite Duras in der Volksbühne
Ein Tonband gibt nur wieder, was es behält, aber man erfährt ja nichts.« Mit diesem Satz der 51jährigen Claire-Amelie Lannes ist die Struktur des Duraschen Rededramas Die englische Geliebte offengelegt: Es geht darum, etwas zu erfahren, was sowohl Befrager als auch die beiden Befragten noch nicht wissen. Der »Befrager« war ursprünglich vielleicht angetreten, um ein Geständnis motivgeschichtlich zu untermauern, herauszukriegen, warum eine Frau, die seit 22 Jahren in einem Haus in der französischen Stadt Viorne zusammen mit ihrem Mann und ihrer taubstummen Cousine lebt, diese Cousine ermordet, zerstückelt und deren Körperteile in verschiedenen Güterzügen verstreut hat. Vielleicht ging es dem »Befrager« sogar nur darum, per Softinquisition der Mörderin und ihres Mannes den genauen Bestimmungsort des Kopfes der Leiche aufzufinden — aber dieser blieb, genau wie das Motiv, im Geständnis der Claire eine Leerstelle.
Im Verlauf der Befragung bewegen sich aber beide von der Rekonstruktion eines Dramas weg in ein Drama der Sprache: Fragen und Antworten, Reden und Schweigen sind seine Protagonisten. Nur wer zuhört, erfährt — diese Art von Erkenntnis ist aber, als sie möglich ist, gar nicht erwünscht. So endet das Stück mit einem Paradox: Je mehr Claire ihr von bekannten Realitätsmustern abweichendes Innenleben entblößt, sich selbst mit Erstaunen zuhört, desto weniger kann ihr Befrager ihre Erzählung ertragen, bis er sich schließlich sogar die Ohren zuhält.
Anfangs verlief die Bewegung umgekehrt: Der Befrager, ein eloquenter Achtundsechziger lockert sich mit gymnastischen Fragen, bei denen immer auch ein bißchen sein Pferdeschwanz mitwippt, auf, beugt den Oberkörper vor, lehnt sich diplomatisch zurück, um scheinbar schüchtern zum entscheidenden Vorstoß auszuholen. Claire dagegen erscheint als kühle Matrone, trauert im schwarzen Kleid, setzt sich nur auf den äußersten Rand ihres Stuhls, gibt tonlose, lakonische Erwiederungen, die keine Antworten sind — aber dann schießt sie plötzlich zurück: »Warum wollen Sie das wissen? Sie wollen wissen, wo der Kopf ist? Das sage ich nicht.« Trotzdem wandelt sich ihr anfängliches Mißtrauen in zutrauliche Mitteilsamkeit. Claire, die in der Beschreibung ihres gleichgültig beilebenden Gattens merkwürdig konturlos bleibt, als eine, die »wie Besuch« ist und »zwei Tage lang Holz hackt«, die sich Watte in die Ohren stopft, um ein Leben wie es die Cousine führt, begreifen zu können, bekommt in ihren eigenen Botschaften eine bizarre Größe.
Nein, sie hat nichts gegen die Cousine gehabt, aber sie hat geträumt, sie brächte jemanden um, und vielleicht mußte sie die Tat einfach tun, um zu wissen, was der Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit ist. Sie war viel im Garten, man wußte nicht, was sie dort tat, sie aber beobachtete die Welt, das Haus, die Menschen, ihre Art und ihre Ausmaße. Offensichtlich mißt sie die Welt anders aus: Marie-Therese, die Cousine, erschien ihr zu dick für das Haus, Pierre, ihr Mann, zu hoch.
Auch hätte die Sauberkeit zu viel Platz eingenommen. Anstelle wovon? fragt der Befrager schlau. Sie überlegt einen Augenblick, bevor sie — als gäbe es eine richtige Antwort — vorschlägt: anstelle der Zeit? Tatsächlich reichte ihr, der Nichtstuerin im Garten, die Zeit nicht aus: Immer wurde sie im Denken über die Welt unterbrochen vom Abendessen oder sonst einer profanen Verrichtung; auch reichte ihre Sprache für die Fülle und die Art dessen, was sie unbedingt mitteilen wollte, nicht aus: »Ich war nicht intelligent genug für die Intelligenz, die ich besaß.«
Falsch wäre es jedoch, daraus zu folgern, sie wäre sich nicht ihrer selbst und ihrer Tat bewußt. Dagegen spricht nicht nur ihre 22jährige Paranoia, irgendwelche »Spuren« zu hinterlassen — penibel achtete sie auf ihr Zimmer, ihre Kleider, ihren Körper für den Fall, sie würde, wie sie es sich mit unklarer Hoffnung auf ein anderes Leben wünschte, »weggeholt«.
Mit einer Art innerer Genugtuung stellt sie sich nach dem Mord an der Cousine den Verfall des Hauses vor: »Ein Schweinestall... wie sich das Fett auf dem Tisch mit dem Staub vermischt.« Das klingt aber auch wie ein Vorwurf, und es ist auch einer, denn sie will wissen, »wie weit das noch geht«. Der Vorwurf ist unbestimmt an ein Außen, an die Gesellschaft gerichtet, die offenbar nicht sieht und nicht hört. Dabei hat sie, Claire, doch das Menschenmögliche getan, um darauf aufmerksam zu machen. Nur reichen ihre Kräfte nicht. Mit der Ermordung der — haushaltführenden — Cousine ist zwar die verhaßte Sauberkeit gebannt, aber der Schmutz ist hereingebrochen, das Fett und der Staub vermischen sich zu einer unheilvollen Melange. Den Fleck, den sie auf dem Hals der Cousine entdeckt hat, konnte sie auch mit dem Mord an ihr nicht entfernen — das Fleckenlösungsmittel, das sie bräuchte, gibt es (noch) nicht und wenn es vorhanden wäre — man würde es ihr verwehren.
Die Stärke der sehr sparsamen Inszenierung von Rudolf Koloc, die sich ganz auf den Dialog der beteiligten Personen konzentriert, liegt in der Glaubwürdigkeit der Claire begründet. Walfriede Schmitt ist eine resolute, bestimmte Persönlichkeit, die nichts mit dem beliebten Bild der verwirrten gemeingefährlichen Attentäterin zu tun hat. Sie paßt aber durchaus in die Reihe der Adelheid Streidels, deren Motive — beispielweise, daß Politiker unterirdische Tötungsfabriken beförderten — grundsätzlich nicht ernst genommen werden. Sie können schreien und morden, wie sie wollen, es wird ihnen erst recht nicht zugehört, weil man ihnen anlastet, daß ihre interne Chemie nicht mehr stimmt. Tatsächlich ist der ganze Freilandversuch mit seinen permanenten gewalttätigen Explosionen und ökologischen Verheerungen eine Bankrotterklärung, gegen die sich der zunächst sinnlos scheinende chirurgische Eingriff einer Claire als ziemlich vernünftige Maßnahme ausnimmt. Dorothee Hackenberg
Marguerite Duras: Die englische Geliebte ; Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz. Regie: Rudolf Koloc; Bühne: Martin Fischer; Befrager: Peter René Lüdicke; Pierre Lannes: Horst Westphal; Claire Lannes: Walfriede Schmitt.
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