: Der Alptraum des Scott Norwood
■ Die New York Giants gewannen vor 75.000 Zuschauern in einem Hochsicherheitstrakt namens Tampa-Stadium die XXV. Super Bowl des American Football gegen die Buffalo Bills mit 20:19
Berlin (taz) — Marv Levy, Chef- Coach der Buffalo Bills, ist ein studierter Mann. So studiert, daß seine Spieler, wie Linebacker Darryll Talley verrät, sich nach den Mannschaftssitzungen ab und zu treffen, um gemeinsam herauszufinden, „was er eigentlich gesagt hat“. Der 62jährige Levy hat einen Abschluß in englischer Geschichte von der Harvard-Universität, hält sich aber keineswegs für einen Intellektuellen. Zwar lese er gern Bücher, die „nicht nur Bilder enthalten“, aber das träfe ja auch auf andere Leute zu. „Die Wahrheit ist, ich sehe mich als Football-Trainer.“ Manchmal allerdings gebe es Momente, da blicke er auf das Spielfeld und sage zu sich: „Was zum Teufel tust du eigentlich hier? Was ist so wichtig an all diesen Männern, die sich gegenseitig umrennen?“
Am Sonntag abend im Tampa- Stadium zu Florida, vor 75.000 fähnchenschwingenden Zuschauern, die von 2.500 Polizisten wegen befürchteter Terrorakte aufs strengste überwacht wurden, dürfte ein solcher Moment vorgekommen sein. Gebannt starrte Marv Levy in den letzten Sekunden der XXV. Super Bowl des American Football, die von den Buffalo Bills und den New York Giants ausgespielt wurde, auf das Spielfeld und vor allem auf den Fuß eines Spielers: Scott Norwood, Buffalos Spezialist für Field-Goals. Dreieinhalb Stunden hatte das Match bereits gedauert, und nun sollte es in einem einzigen Schuß kulminieren.
20:19 führten die Giants, doch ein mißlungener Lauf ihres Quarterbacks Jeff Hostetler hatte die Bills in Ballbesitz gebracht. Eilig hatten diese einen Großteil des Feldes überbrückt und waren bis auf 47 Yards an das Tor der New Yorker herangekommen. Norwood hatte es auf dem Fuß, das widerspenstige Ei aus dieser für ihn keineswegs utopischen Entfernung zwischen den beiden Pfosten hindurchzuschießen. Drei Punkte hätte dies gebracht: der sichere Sieg für die Buffalo Bills.
Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit dem Harvard-Absolventen und seinen Eleven; Norwood verzog, das Spielgerät sauste ein bis zwei Meter an der rechten Tortstange vorbei: Sieg für die New York Giants.
Diese hatten sich den Triumph allerdings auch redlich verdient. Beide Teams gehören nicht unbedingt zu den brillanten Vertretern ihrer Zunft, wie sie etwa von den San Francisco 49ers repräsentiert werden: offensiv, mit spektakulären weiten Pässen, pfeilschnellen, fangsicheren „wide receivers“ und bildschönen Touchdowns. Sie gehören eher zu denen, deren Stärke in der knüppelharten Defensive liegt, die durch Läufe ihrer starken Running Backs den erforderlichen Raum gewinnen und ihre Punkte häufig durch Field-Goals erzielen.
So verbauten die Giants den 49ers den Weg zur dritten Super Bowl in Folge durch fünf Field-Goals von Matt Bahr, dessen Vater 1950 bei der Fußball-WM in Brasilien zu jenem US-Team gehörte, das sensationell mit 1:0 gegen England gewann. Vor allem San Franciscos genialer Quarterback Joe Montana wird noch lange an diese Partie denken. Die Abwehr der Giants brach ihm das preziöse Händchen, in dem jetzt zwei dicke Schrauben stecken. Vier Monate lang wird Montana keinen Ball werfen können. Die Taktik der Giants hieß: Wenn wir das Ei haben, können die anderen nicht punkten. Ballhalten und sich beharrlich nach vorn arbeiten, lautete die Devise. Bei einer reinen Spielzeit von einer Stunde hatten sie das begehrte Spielobjekt 40 Minuten und 23 Sekunden in ihrer Obhut — Super-Bowl-Rekord. Ersatz-Quarterback Jeff Hostetler, der für den verletzten Phil Simms die letzten Saisonspiele bestritten hatte, wurde zwar mehrfach wüst von den Bills über den Haufen gerannt — einmal rammte ihn Leon Seals mit der Urgewalt eines Nashorns und vermutlich auch mit dessen Gewicht so vehement zu Boden, daß man um jeden einzelnen von Hostetlers Knochen fürchten mußte — aber er rappelte sich immer wieder hoch und glänzte mit guten Pässen und geschickten Abspielen zu den Läufern David Meggett und Ottis Anderson, der zum „wertvollsten Spieler“ dieser Super Bowl gewählt wurde. Der Lohn waren zwei Touchdowns (je 7 Punkte inklusive Zusatzpunkt) und zwei Field-Goals (je 3).
Auf der anderen Seite kam Quarterback Jim Kelly, dessen untere Zahnreihe an die Skyline von Manhattan erinnert, nicht wie gewünscht zum Zuge, was auch an Fänger Andre Reed lag, der so ziemlich alles fallen ließ, was ihm in die Finger kam. Letzlich blieb das ganze Unglück aber am Schußstiefel von Scott Norwood hängen, der wohl noch oft von diesem Tag in Tampa träumen wird. Auf andere Art allerdings, als es Jim Kelly gemeint hatte, der vorher sagte: „Ich komme aus einem Ort von 800 Leuten. Wenn du in solch einer kleinen Gemeinde aufwächst, mit all den Sandkastenspielen, dann ist die Super Bowl etwas, wovon du träumst.“ Matti
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen