Deutsche Verhältnisse

■ Fernsehfilm über Anfänge des Rundfunks in der Hamburger „Rothenbaumchaussee“, ARD, 20.15 Uhr

Wer staunt heute noch darüber, daß ein Kantinenwirt zum Verwaltungsdirektor einer Rundfunkanstalt aufsteigt, nur weil er das richtige Parteibuch besitzt?

1945 rief so eine Blitzkarriere noch richtige Empörung hervor, zumal der Kandidat für den Chefsessel vor nicht allzu langer Zeit woanders fest im Sattel gesessen hatte — bei der österreichischen Reiter-SA. Mit der Ernennung des eindeutig Vorbelasteten zum Verwaltungsdirektor des Funkhauses in der Hamburger Rothenbaumchaussee war eine kurze Phase beendet, in der Journalisten und Künstler mit britischen Kontrolloffizieren ein demokratisches Radio ausprobiert hatten. Schon Ende 1945 wurde der Weg für den Proporzrundfunk geebnet. Damit war ein farb- und konturloses Programm vorgezeichnet.

Für den Film spielt das noch keine Rolle, denn der in England lebende Dramatiker Robert Muller beschränkt sich auf die anarchischen und gärenden Monate direkt nach Kriegsende. Zwar mag der späte Blick zurück auf die Anfänge des nordwestdeutschen Rundfunks ein wenig durch nostalgische Erinnerungen verklärt sein, doch viele der Anekdoten und Hörbeispiele aus dem Programm basieren auf Originaldokumenten. Robert Muller, der in Hamburg geboren ist, hat dennoch kein Dokumentarspiel geschaffen. Seine Figuren sind frei erfunden. Rothenbaumchaussee ist die Fortsetzung des Films Die Welt in jenem Sommer (gestern in der ARD), der die Geschichte des halbjüdischen Kindes Hannes Hacker erzählt — ein Flüchtlingsschicksal im Nazideutschland.

In der ebenfalls in Schwarzweiß gedrehten Fortsetzung kehrt Hannes Hacker als britischer Controll Officer aus der Emigration zurück und versucht, im zerbombten Hamburg den Rundfunk neu zu organisieren. Für das Programm braucht er unbelastete Deutsche. Da dieser oder jener Exnazi zwar einen Persilschein vorzuweisen hat, aber nicht viel mehr, holt sich der Brite auch schon mal einen Lumpensammler von der Straße, weil der vertrauensseliger wirkt.

Die ersten Sendungen von „Radio Hamburg“ sind dementsprechend: Amateure üben live auf dem Sender. Die Nachricht, daß ein Kartoffelzug eintreffen wird, ist wichtiger als eine Meldung der britischen Militärbehörden. Und manchmal gibt es mutige Glossen gegen eine Justiz, die den jungen Spitzbub hart verurteilt, bei den Nazis aber Milde walten läßt.

Annäherungen an die Wahrheit. Doch die wollte schon damals kaum jemand hören. Je rascher sich die deutsche Gesellschaft im Verdrängen übte, um so häufiger stieß „Radio Hamburg“ auf taube Ohren. So scheint es nur konsequent, daß mit der Erlangung der Selbständigkeit von den Briten auch in der Rothenbaumchaussee wieder deutsche Verhältnisse einzogen. Und da ist ein brauner Kantinenchef mit einer weißen Weste eben ein idealer Verwaltungsdirektor. Christof Boy