Unterschiedliche Realitäten

■ Bush und Saddam meinen nicht dasselbe, wenn sie von Sieg und Niederlage sprechen KOMMENTARE

Nach Ansicht von Saddam Hussein liegt die Möglichkeit einer Niederlage seines Landes im Golfkrieg bei „noch nicht einmal eins zu einer Million“. Anders gesagt: Sie liegt außerhalb des Denkbaren. Auf den ersten Blick wirkt diese Position dermaßen absurd, daß man meinen könnte, Saddam habe jeden Bezug zur Realität verloren. Allerdings scheint es sich eher um unterschiedliche Wahrnehmungen der Realität zu handeln. Denn aus seiner Sicht kann Saddam den Krieg, nachdem er die ersten Tage überstanden hat, gar nicht mehr verlieren.

Jeder weitere Kriegstag beweist ihm, daß er in der Lage ist, der Übermacht der multinationalen Truppen unter Führung der Vereinigten Staaten standzuhalten; jeder weitere Tag läßt deutlicher werden, daß der Aufmarsch der westlichen Truppen auf der Ebene der arabischen Innenpolitik durchaus als militärische Intervention angesehen wird. Saddam Hussein, der ehemalige Führer der Ablehnungsfront gegen den Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel, ist nun erneut quasi stellvertretend für die „arabischen Massen“ in die Rolle des Standhaften geschlüpft. Nur vor diesem Hintergrund kann er erklären, daß seine Truppen die „Bewunderung der Welt“ gewinnen werden; nur mit dieser Perspektive kann er von einem „Gleichgewicht“ der Kräfte sprechen, das es bislang nicht erforderlich gemacht habe, chemische Waffen einzusetzen.

Für Saddam Hussein geht es, wie auch im Falle seines Krieges gegen den Iran, nicht nur um Geld, Öl und territoriale Gewinne und einen größeren Zugang zum Golf, sondern auch um übergeordnete, immaterielle Ziele, die immer schon im Mittelpunkt der Baath-Ideologie standen: Für den pan- arabischen Nationalismus, der stets auch eine Verbindung zum Islam hatte, spielt der konkrete Verlauf von Staatsgrenzen eine untergeordnete Rolle. Nachdem Saddam Hussein seine ganz auf die eigene Person zugeschnittene Ordnung im Zuge der letzten großen Säuberung der Partei 1979 nach innen durchgesetzt hatte, konnte er die Alternativen Chomeinis oder der Scheichs nur als „degeneriert“ ansehen. Doch zwischen dem Krieg gegen den Iran und dem Krieg um Kuwait gibt es einen grundlegenden Unterschied: Die Ayatollahs schickten ihre Soldaten auch für ein immaterielles Ziel — den Glauben — auf die Schlachtfelder, während die USA und ihre Verbündeten zunächst für ein greifbares militärisches Ziel kämpfen. George Bush und Saddam Hussein haben sehr unterschiedliche Kriterien, wenn sie von Sieg und Niederlage sprechen. Beate Seel