: „In dieser Gesellschaft ist alles Lüge“
■ Gespräch mit Stanislaw Goworuchin, dem Regisseur des umstrittenen sowjetischen Dokumentarfilms „So kann man nicht leben“
taz: Herr Goworuchin, wie haben Sie den Film finanziert?
Stanislaw Goworuchin: Teilweise wurde ich von ausländischen Filmverleihfirmen unterstützt. Das meiste Geld stammt jedoch von Mosfilm. Die haben Geld, bei uns wird schließlich jeden Tag Neues gedruckt. Der Staat investiert Geld, damit ich einen Film machen kann, der gegen den Staat ist.
War es schwierig, Drehgenehmigungen zu erhalten, zum Beispiel für die Innenaufnahmen in den Gefängnissen?
Nein, im Gefängnis war es ganz einfach. Wir haben angerufen und als Antwort bekommen: „Bitte schön, dreht.“ Über das Frauengefängnis sind wir zufällig gestolpert. Der Direktor hat gesagt: „Schau es dir an, vielleicht gefällt es dir.“ Es war natürlich auch deshalb nicht so schwierig, weil man mich in der Sowjetunion kennt. Nach So kann man nicht leben darf ich praktisch überall drehen, wie seltsam es auch klingen mag.
Am Anfang ist die Art der Dokumentation in Ihrem Film eine distanzierte Bestandsaufnahme des sozialen und geistigen Klimas in der UdSSR. Später werden Sie mit Ihren persönlichen, manchmal sehr emotionalen Kommentaren, im Film immer präsenter. Wie hat sich Ihre Haltung während der Dreharbeiten verändert?
Ich hatte kein genaues Drehbuch. Im Verlauf des Films habe ich viel erfahren, was ich vorher nicht gewußt habe. Am Ende habe ich mehr verstanden als vorher. Natürlich bin ich gleichzeitig emotionaler geworden. Der Film ist nicht von einem Regisseur, sondern vom Leben selbst gemacht worden. Vielleicht ist der Film deswegen so erfolgreich. Schmerz klingt heraus, und dieser Schmerz wird in der russischen Fassung nicht abgeschwächt wie in der deutschen Fassung durch die Mitwirkung von Maximilian Schell.
Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Maximilian Schell als Co- Moderator?
Das war eine Idee des deutschen Verleihs. Ich habe meinen Kollegen vertraut, weil sie die Psychologie des deutschen Publikums besser verstehen. Maximilian Schell fungiert als eine Art Identitätsfigur für die Zuschauer. Er hilft ihnen zu verstehen, wovon ich spreche. Der Film wird dadurch in seiner Wirkung milder, ist nicht mehr so hart, grob. Aber das betrifft nur Deutschland, in anderen Ländern wird der Film so laufen wie in der Sowjetunion.
Bei der Beantwortung der Frage, wodurch es zum Verfall der Werte und Moral in der Sowjetunion kam, ziehen Sie ein eindeutiges Fazit: Ein unterdrückerisches, totalitäres System ist für die verhängnisvolle Entwicklung der letzten siebzig Jahre verantwortlich.
Glauben Sie, daß die Menschen in der ehemaligen DDR besser sind als die Menschen in der Bundesrepublik? Als ich früher die deutsch-deutsche Grenze überquert habe, bin ich viel Grobheit begegnet. Die Menschen im Osten waren total anders, als ob sie mit den Menschen im Westen überhaupt nichts gemeinsam hätten. So hat sie das System gemacht. Für mich unterschieden sie sich sehr von den höflichen, hilfsbereiten Deutschen im Westen. Wenn jemand aus der Sowjetunion in den Westen kommt, ist er am meisten von den lächelnden Menschen beeindruckt. Nicht von den Geschäften. Die Ostdeutschen hatten das totalitäre Regime nur 40 Jahre, in der Sowjetunion herrschte dieses Regime über 70 Jahre. Bei uns wurden die Kirchen zerstört und die Intellektuellen ausgerottet. Man hat das russische Volk kaputtgemacht. Waren Sie schon einmal in der Sowjetunion?
Nein.
Also, worüber sprechen wir? Ich war in diesen drei Ländern. Ich habe das Recht, darüber zu urteilen.
Ich nehme Ihren Film als Gesprächsgrundlage.
Man kann über diesen Film nicht sprechen, wenn man die Sowjetunion nicht kennt. Wenn Sie über den Film sprechen, dann müssen Sie auch dem Regisseur glauben. [...]) Solschenizyn hat einmal gesagt, wenn die geistigen Kräfte einer Nation erschöpft sind, kann diese Nation nicht einmal von dem besten Regime gerettet werden. Wenn ein Baum ein faules Astloch hat, kann der Baum nicht gesund sein. Wenn das Volk bestimmte Freiheiten bekommt, beginnt die „Freiheit der Unverschämtheit“, das stamnmt auch von Solschenizyn. Beim Film ist die Freiheit des Schaffens zur Freiheit der stümperhaften Arbeit geworden. Die Freiheit des Unternehmertums ist zur Freiheit der Raffgier geworden. Aus der Humanisierung des Gerichts wurde die Freiheit der Straflosigkeit. Diese Prozesse haben dem einfachen Bürger das Recht gegeben, die negative Entwicklung mit der Demokratie in Verbindung zu bringen. Deshalb hat eine Demokratie in der Sowjetunion in den letzten fünf Jahren eine Niederlage erlitten. Die demokratischen Kräfte müssen bei Null anfangen oder sogar im Minusbereich.
Am Ende des Films kommentieren Sie beim Anblick der Berliner Mauer: „Hier endet die Welt der Vernunft, und der Sozialismus beginnt.“
Im Westen gibt es mehr Vernunft als bei uns. Das bedeutet nicht, daß die kapitalistische Welt in allen Dingen besser ist. Das heißt nur, daß der Kapitalismus das kleinere Übel ist.
An einer Stelle bezeichnen Sie die sowjetische Gesellschaft als „Reich der Lüge“.
Das ist richtig. In dieser Gesellschaft ist alles Lüge. Die Geschichte des Landes ist Lüge. Lenin als großer Führer ist auch eine Lüge. Alles ist Lüge. In der westlichen Welt besucht ein Kind Disneyland, bei uns geht es zur Ausstellung der Lüge [im Film Lenin-Denkmäler, M. L.]. Bei Ihnen macht man es vertraut mit Gott, mit der Geschichte der Schöpfung. In der anderen Welt spricht man mit ihm über Marx und Lenin. Welches System hat mehr Wahrheit und Vernunft?
Einige der Kontrastsequenzen — zum Beispiel die Szene, in der ein amerikanischer Polizist den Revolver schneller ziehen kann als sein sowjetischer Kollege — werden zu Metaphern für das Funktionieren bzw. Nichtfunktionieren unterschiedlicher Gesellschaftssysteme. Ist diese klare Polarisierung nicht etwas verkürzt?
Bei der Pistolenszene hat das sowjetische Publikum laut gelacht. Alle wissen, warum der Polizist die Pistole so langsam zieht. Er darf nämlich nur selten auf dem Schießstand üben, weil er im Jahr nur fünf Patronen bekommt. Die ganze übrige Zeit liest er Marx und Lenin. Das kann man dem westlichen Publikum nicht erklären. Deswegen sieht der westliche Zuschauer in dieser Szene etwas anderes. Dieser Film ist für die sowjetischen Zuschauer gemacht, die verstehen ihn. Im Unterschied zu den Zuschauern hier, haben die Zuschauer im Osten jahrzehntelang nur von geistiger Nahrung gelebt. Die materiellen Errungenschaften hatten sie nicht. Obwohl wir hinter dem eisernen Vorhang gelebt haben, kennt das Publikum das Leben im Westen besser als umgekehrt. In den fünf Jahren der Perestroika gab es von allen Seiten Informationen über das Leben im Westen.
'Der Spiegel‘ hat Ihren Film als „antikommunistisches Manifest“ bezeichnet. Würden Sie dieser Einschätzung zustimmen?
Ja. Das ist eine sehr präzise Einschätzung. Ich bin nicht gegen die russischen Kommunisten, sondern gegen die kommunistische Idee. Wenn in mir jemand negative Gefühle hervorruft, sind es die westlichen Kommunisten. Das sind für mich primitive und dumme Menschen, Idioten. Heute stehen sie vor dem Weißen Haus und fordern das Ende des Golfkriegs. Wenn die Anti- Hitler-Koalition sich 1935 und nicht erst 1941 gebildet hätte, hätte sie „Hände weg von Hitler“ geschrien.
Sie beklagen in Ihrem Film den Verlust von Werten, wie „Nächstenliebe“ oder „Menschenwürde“ — beides Begriffe, die sich stark an einer christlichen Weltsicht orientieren. Ist das Christentum für Sie eine Hoffnung?
In der heutigen Welt sind fast alle Länder antireligiös. Das ist der richtige Weg zu einem Niedergang. In Rußland kannte man in den letzten 70 Jahren keinen Gott. Heutzutage gewinnt die Kirche ihre Positionen zurück. Das läßt hoffen, daß das russische Volk wieder eine geistig gesunde Nation werden könnte. Die geistige Gesundheit der Gesellschaft ist viel wichtiger als die materielle.
Wie kommentieren Sie die gegenwärtige Auseinandersetzung über die Unabhängigkeit der baltischen Staaten?
Das ist ein natürlicher Prozeß, das war zu erwarten. Unsere Leiter glauben an die Unerschütterlichkeit des sowjetischen Imperiums. Sie glauben, daß man es mit Gewalt zusammenhalten kann. Das ist der entscheidende Fehler. Blutige Konflikte werden folgen, solange unsere Staatsführer nicht verstehen, daß der Ablösungsprozeß unabwendbar ist. Wie alle anderen Kolonien in der Welt es auch gemacht haben. Wenn Polen auch zur Sowjetunion gehören würde und es dort in jedem Jahr einen Aufstand gäbe, wäre Polen längst unabhängig.
Abspann: Die Fragerin bemerkt, daß der Regisseur nervös auf der Couch herumrutscht und das Gespräch beenden will. Kurz bevor Hände geschüttelt werden sollen, erfährt er, daß das Interview für eine linksalternative Zeitung bestimmt ist. Er nutzt dies, um empört aufzuspringen. „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß die Kommunisten Idioten sind.“
Das Gespräch führte Michaela Lechner
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