In den Blumentöpfen findet man Patronenkugeln ...

Der Krieg im kurdischen Cizre hat nicht erst nach der Besetzung Kuwaits durch Saddam Hussein begonnen/ Bevölkerung zwischen den Fronten  ■ Aus Cizre Ömer Erzeren

Das Schlachtfeld war eine einstöckige Behausung neben einer neuerbauten Moschee. Hunderte Kugeln bohrten sich in die Außenmauern. In den Blumentöpfen findet man Patronenkugeln. Die Blumen selbst sind ausgetrocknet. Der weiße Kalk der Außenwände ist abgeblättert, Glasscherben liegen überall herum. Die letzte Erinnerung an häusliches Leben: Oliven, „Omo“-Waschpulver, Butterpapier — vor der Eingangstür auf dem Betonfußboden zusammengekehrt. Der 10jährige Schüler, der uns hierherführte, schildert aufgeregt die Schlacht. „Es ist zwei Wochen her. Die Soldaten schossen mit Maschinengewehren und Handgranaten. Die Männer schossen zurück. Es ging den ganzen Tag. Zum Schluß wurden die Leichen herausgetragen.“ Der aufgeweckte kleine kurdische Schüler verheimlicht nicht, auf wessen Seite sein Herz schlug. „Das Militär hat auch einen Passanten ermordet. Hinterher haben sie einen Terroristen aus ihm gemacht und eine Pistole neben ihn gelegt.“ Der Schüler geht nicht mehr zur Schule. „Keiner geht mehr dorthin. Zuerst blieben die Schüler weg, dann blieben die Lehrer weg.“ Diesmal wegen Saddam Hussein.

„Krieg“ ist ein „organisierter, mit Waffengewalt ausgetragener Machtkonflikt zwischen Völkerrechtssubjekten oder Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Staates zur gewaltsamen Durchsetzung politischer, wirtschaftlicher, ideologischer und militärischer Interessen“, so ist in Meyers Lexikon zu lesen. Der Krieg im kurdischen Cizre hat nicht nach der Besetzung Kuwaits durch den Irak begonnen. In dieser Stadt am Tigris, wenige Kilometer von der irakischen Grenze entfernt, war der Krieg schon immer allgegenwärtig.

Im Cudi-Quartier, benannt nach der gewaltigen Gebirgskette Cudi, wo sich in den Sommermonaten die türkische Armee und die kurdische Guerilla PKK blutige Gefechte lieferten, ist die Erinnerung an den März allgegenwärtig: der Massenaufstand gegen den türkischen Staat, die Wasserwerfer und Panzerwagen, die Schüsse der berüchtigten Antiterroreinheiten auf die Demonstranten, die toten Kinder und Jugendlichen.

Mehmet Timurtas ist ein alter Mann. Einen Tag vor Beginn des Golfkrieges wurde sein Sohn beerdigt. Am 4. Januar hatten sie seinen Sohn, den Schlosser Tevfik Timurtas, verhaftet. Er sollte von der Polizei vernommen werden. Der Vater erzählt: „Am 13. Januar kam ein Polizist und lud mich zur Polizeistation. Wir wurden von dort ins benachbarte Sirnak geschickt. Die Polizisten brachten uns zur Armee-Einheit. Sie zeigten mir dort Fotos meines Sohnes. Ich mußte Papiere unterschreiben.“ Dem Vater wurde die Leiche seines Sohnes übergeben. „Er muß sofort beerdigt werden“, drohten die Polizisten. Der Schädel des Leichnams war kaputt. Am gleichen Tag noch, in Begleitung von Wasserwerfern und Polizeiminibussen wurde Tevfik beerdigt. Die Trauergemeinde, die sich doch noch zusammengefunden hatte, wurde mit Gewalt auseinandergetrieben.

Der Krieg hat hier lange vor Saddam Hussein stattgefunden. Viele der Bewohner Cizres haben sich erst in den vergangenen zwei Jahren hier angesiedelt. Die umliegenden Dörfer, der Unterstützung für die PKK verdächtigt, wurden entvölkert. Die Politik der verbrannten Erde trieb die Menschen in die Stadt: in die Armut, ins Elend, in den Dreck des Cudi- Quartiers. Als der Golfkrieg begann, packten sie ihr Hab und Gut und versuchten nach Westen zu ziehen. Denn Halabja, der mörderische C-Waffen-Einsatz Saddams gegen die kurdische Zivilbevölkerung, ist in den Köpfen. In den ersten Tagen des Krieges war Cizre wie ausgestorben. Heute kehren die Menschen wieder nach Cizre zurück. Man braucht ein Dach über dem Kopf. Nur die Reichen können es sich leisten, nach Istanbul zu fahren.

Die Golfkrise und der Krieg haben das Wirtschaftsleben der Stadt zerstört. In den Lebensmittelgeschäften wird seit Monaten auf Pump gekauft. „Zehn meiner Gläubiger sind abgehauen und nicht mehr in Cizre“, klagt der Krämerladenbesitzer im Cudi-Quartier. Vor der Golfkrise war der Schmuggel die Existenzgrundlage Zehntausender. Die Tankwagen, die vollbeladen aus dem Irak zurückkehrten, führten stets auch Zigaretten und Lebensmittel mit. Zu subventionierten Preisen im Irak eingekauft, wurden sie in Cizre abgestoßen. Der Schwarzmarkt, vom Staat geduldet, blühte. Billiger als sonstwo in der Türkei konnte man in Cizre Lebensmittel einkaufen. Damit ist es aus und vorbei. Die Margarine hat sich um 200 Prozent verteuert. Der Krämer führt keinen Käse, keinen Honig und keinen Yoghurt mehr. „Zu teuer alles, die Leute können sich nichts mehr kaufen“, berichtet er. Das einzige Fenster seines Ladens hat er ganz neu vergittert. „Vor drei Tagen haben sie nämlich hier eingebrochen. Sie haben nichts mehr zu essen. Irgendwie versteh' ich schon, daß sie zu stehlen anfangen. Wie wollen sie auch die Familie ernähren?“

Schon immer war Cizre voller Soldaten. Gendarmerie und die berüchtigten Antiterroreinheiten gaben den Ton an. Nach dem Krieg hat sich die Zusammensetzung der Soldaten geändert. Es wurden so viele, daß nicht mehr die Sondereinheiten auffallen, sondern die Massen türkischer Infanterie — einfache Soldaten, die ihren Militärdienst ableisten. Sie haben nicht die Arroganz der Rambos, die Kurden terrorisieren. Es sind einfache türkische Soldaten in erbärmlichem Zustand, frierend, gehorchend für den Aufmarsch gegen den Irak, bei dem andere das Kriegsgerät liefern. „Leopard“- Panzer treffen in Cizre ein.

„Sie wollen uns Kurden umbringen“, flüstert der Mann im Kaffeehaus, „Saddam hat unsere Verwandten in Halabja ermordet. Die Türken geben uns keine Gasmasken, damit wir sterben.“ Seit Beginn des Krieges wurden Gasmasken nur an hohe Beamte ausgeteilt. Für 50.000 Einwohner gab es 150 Gasmasken. In der Stadt gibt es noch nicht einmal Sirenen, die die Bevölkerung vor einem Luftangriff warnen könnten. Witze kursieren in der Stadt. „Wie merkt ein Kurde, ob C-Waffen fallen? — Er stellt ein Huhn auf das Dach. Fällt das Huhn tot um, weiß er, daß chemische Waffen fielen.“

Mit dem Einbrechen der Dunkelheit ist Cizre ausgestorben. Zu Hause hört man den türkischen Sender von BBC. Nur im Hotel Kadioglu herrscht Bewegung. Ein paar Dutzend Menschen wandern zwischen Lobby und Restaurant, die durch eine offene Tür getrennt sind. Zwei Abgeordnete der „Arbeitspartei des Volkes“ sind eingetroffen und bewirten das höhere Parteivolk Cizres. Der Anisschnaps Raki fließt in Mengen. Von einer „gerechten Lösung für die Kurden“ ist die Rede. Der Präfekt gibt zu Ehren einer UN-Delegation, die sich über die Flüchtlinge aus dem Irak informieren will, ein Essen. Der Polizeichef ist mit von der Partie.

Der Bürgermeister, Hasim Hasimi, darf nicht an den Tisch. Er hatte sich schließlich geweigert, vor einem Fernsehteam des türkischen Fernsehens darüber zu plaudern, wie „großartig“ der Zivilschutz in Cizre sei. Eine Handvoll Zivilpolizisten mit Maschinenpistolen und Walkie- talkies, eine Handvoll Fotoreporter mit Gerätschaft, eine Handvoll Offiziere in Kampfanzügen. Jeder kennt jeden, jeder grüßt jeden. Ein Zivilpolizist legt ermüdet eine Maschinenpistole auf dem Tisch der Rezeption nieder. Im Hintergrund ein Kassettenrecorder, auf dem kurdische Lieder abgespielt werden. Auch ein Fernsehapparat läuft ununterbrochen. Staatspräsident Özal: „Man soll keine Angst haben. Ich glaube, wir haben uns zu sehr an den Luxus gewöhnt. Deshalb haben wir viel zu verlieren. Aber vergeßt nicht, daß wir eine kriegerische Nation sind.“

Krankenschwestern aus Istanbul sind angekommen. „Gestern erst haben wir Bescheid gekriegt. Ihr müßt an die Grenze. Dienstversetzung. Hol sie der Teufel“, schimpft die Schwester, die noch nie einen Fuß auf kurdisches Gebiet gesetzt hat. Protestkundgebungen des Gesundheitspersonals gegen den Krieg sind in Istanbul verboten worden. „Wenn die Beschäftigte schwanger ist, soll sie doch abtreiben“, zitieren die Zeitungen den Staatssekretär im Gesundheitsministerium, Ferhan Özmen, anläßlich der Zwangsverlegungen. Der Staatssekretär dementiert. Er habe nur Folgendes gesagt: „Falls eine Schwangere abtreibt, wird sie nach der Abtreibung in den Dienst geschickt.“