: Die Hauptperson: der KGB
Eine Studie über den sowjetischen Geheimdienst ■ Von Peter Tomuscheit
Der da noch 1987 so engagiert den sowjetischen Staatssicherheitsdienst KGB lobt, ist kein Altstalinist und kein Reformbremser, sondern der sowjetische Präsident und frischgekürte Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow. Und wenn man der Kölner Politologin Astrid von Borcke glauben kann, so hat Gorbatschow auch allen Grund, seinen Geheimdienst nicht vor den Kopf zu stoßen. Denn, so die zentrale These ihres Buches Unsichtbare Weltmacht KGB, nicht die Partei oder das Militär sind die gewichtigsten Machtfaktoren der sowjetischen Politik, sondern der KGB, der über entscheidenden Einfluß auf die Führungskader von KPdSU, Armee und Wirtschaft verfügt. Und — so Astrid von Borcke weiter —daß Glasnost und Perestroika überhaupt bis heute überlebt haben, ist vor allem auf ein Bündnis zwischen Reformern und KGB zurückzuführen.
Wie sehr Gorbatschow den sowjetischen Geheimdienst von radikaler Kritik ausnahm, das konnten auch bundesdeutsche Leser schon daran merken, daß in seinen auf Deutsch erschienenen Büchern jeder Hinweis auf diesen Bereich fehlt. Auch in den zahlreichen Publikationen, in denen einer interessierten Öffentlichkeit die Entwickung in der UdSSR nähergebracht wird, ist vom KGB eher am Rande die Rede. Das liegt einmal am Gegenstand selbst. „Der ganze Sinn eines Geheimdienstes ist, daß er geheim bleibt“, so weiß natürlich auch die Autorin; und so bleiben — will man Vergangenheit und Gegenwart des mächtigsten und sicher auch geheimsten aller Geheimdienste darstellen — neben einer dürftigen Berichterstattung als Informationsquelle vor allem die Protokolle der Überläufer, und die sind nicht ganz unproblematisch, denn es liegt nahe, daß in solchen Berichten vor allem das geliefert wird, was der neue Dienstherr — der westliche Geheimdienst also — gerne hört. Und so ist die Kölner Politologin in ihrer Rekonstruktion des geschichtlichen Ablaufs oft genug auf die komplizierte Spurensuche und -interpretation angewiesen, bei der wichtig wird, was zunächst nebensächlich schien: Wie ausgiebig wird ein Geheimdienstjubiläum gefeiert, welcher KGBler sitzt bei einer Parade wie weit vom Parteichef weg, wer braucht wie lange, um vom Kandidaten zum Vollmitglied des Politbüros zu werden. Daß sich dennoch bei entscheidenden Schlußfolgerungen Wörter wie „wahrscheinlich“ oder „offenbar“ häufen und der Konjunktiv herrscht, ist der Autorin nicht vorzuwerfen. Denn trotz der unsicheren Quellenlage zeichnet sie detailliert den Weg des Geheimdienstes von der 1917 gegründeten „Außerordentlichen Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage“ über das zu trauriger Berühmtheit gelangte „Volkskommissariat für Inneres — NKWD“ zum heutigen KGB nach: vom einstigen revolutionären „Provisorium“ zum berüchtigten Terrorinstrument, dann wiederum zum Geheimdienst, der zwischen Reformengagement und Reformsabotage schwankt — ein abenteuerlicher Weg.
Gorbatschow hat immer wieder betont, daß nur derjenige eine veränderte Zukunft gestalten kann, der über seine Vergangenheit Rechenschaft abgelegt hat. Und die Vergangenheit der sowjetischen Staatssicherheit hat Rechenschaft wahrlich nötig. Astrid von Borcke errechnet aufgrund ihrer Recherchen gar eine Gesamtzahl von 50 Millionen Opfern des Stalinismus (die allerdings nur ungenügend abgesichert ist). Natürlich bleibt eine solche Rechnerei problematisch. Denn so wichtig es für die Hinterbliebenen ist, daß kein Terroropfer vergessen wird, stellt sich gerade bei einer deutschen Publikation schnell der Verdacht ein, hier solle gegen die Naziopfer aufgerechnet werden. Der KGB selbst spricht inzwischen übrigens von dreieinhalb Millionen Opfern, die allein auf den NKWD zurückzuführen sein sollen. Doch unabhängig davon, ob dreieinhalb, zehn oder mehr Millionen — angesichts solcher Zahlen stellt sich ohnehin die Frage, ob und wie eine solche geschichtliche Last überhaupt jemals „bewältigt“ werden kann. Die Recherchen Astrid von Borckes zeigen aber auch, daß es sich bei einer solchen Aufarbeitung nicht um ein Wühlen in längts Vergangenem handelt. Sie weist nach, welch starke ideologische und personelle Kontinuität zwischen dem NKWD der Stalin-Ära und dem heutigen KGB besteht (bereits seit 1985 werden übrigens Akten aus der Stalin-Ära vernichtet — so daß sich das Problem der Vergangenheitsbewältigung bald von allein „erledigt“ haben wird!).
Alles beim alten also? Nein, es bietet sich kein einheitliches Bild, und es ist das Verdienst der Autorin, daß sie bestehende Widersprüche nicht wegzuinterpretieren versucht. Dies beginnt bei der Frage, inwieweit der KGB selbst bei der Durchsetzung des neuen Denkens in der Sowjetunion Pate stand.Daß es einen solchen Einfluß gab, ist nicht nur deshalb plausibel, weil schwer vorstellbar ist, daß in der UdSSR irgendeine politische Veränderung ohne den KGB möglich gewesen wäre. Hinzu kommt, daß der Geheimdienst seit jeher über die genauesten Informationen zur Lage des Landes verfügt: Und das bedeutet, er wußte eben auch von gefälschten Planstatistiken, von Amtsmißbrauch und Korruption und von den Zwecklügen der Militärs, kurz: von der Unhaltbarkeit der tatsächlichen Lage. Im übrigen war mit Andropow zum ersten Mal ein KGB-Chef zum Generalsekretär gewählt worden — und Andropow war schließlich derjenige, der die ersten politischen Veränderungen in Richtung neue Politik in die Wege leitete. Auch Gorbatschow — dies zeichnet die Autorin noch einmal nach — genoß bei seiner Wahl zum Parteichef die Unterstützung des KGB.
Dennoch wäre es natürlich verfehlt, den Geheimdienst in seiner Gesamtheit zum geläuterten Befürworter von außerpolitischer Entspannung und innenpolitischer Demokratisierung zu erklären. Allzu deutlich tritt nach wie vor altstalinistisches Denken hervor. Dem formalen Bekenntnis zu Glasnost und Perestroika folgte lange Zeit in fast jeder Stellungnahme von hohen KGB-Offizieren die Warnung vor Anarchie und den Spionen des Auslands. Und das Verlangen, den KGB von jeder Offenheit und Umgestaltung auszunehmen, ist natürlich auch auf Gruppenegoismus zurückzuführen: Man schafft sich eben nicht gern selbst ab.
Der sowjetische Präsident verfolgte unterdessen eine Doppelstrategie: Einerseits nahm er den KGB immer wieder in Schutz — andererseits zog er inzwischen die Kontrolle über die Staatssicherheit an sich und setzte mit Wladimir Krjutschkow einen Mann seiner Wahl an die Spitze. Zudem fordert Glasnost auch vom KGB seinen Preis: Eine selbstbewußter gewordene Öffentlichkeit macht vor den Türen des Geheimdienstes nicht halt. Und selbst wenn oft genug nur ein Public-Relations- Effekt gesucht wird, wenn der KGB seine Tore für die Presse öffnet, so ist doch schon die Tatsache bemerkenswert, daß überhaupt reagiert werden muß.
Noch für dieses Jahr ist ein Gesetzespaket angekündigt, mit dem die Aktivitäten der Staatssicherheit erstmals auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden sollen. An sich ein Fortschritt, aber auch diese Entwicklung ist — wie sich inzwischen erweist — nicht frei von Widersprüchen. Die Kompetenzen des KGB werden momentan anscheinend sogar noch erweitert, und das ist kein Wunder: Zum Vorsitzenden der Kommission, die diese Gesetze ausarbeiten soll, wurde ausgerechnet der ehemalige KGB-Chef auserkoren.
Astrid von Borcke zeichnet diese widersprüchliche Entwicklung der unsichtbaren Weltmacht KGB äußerst faktenreich nach, doch genau hier beginnt auch die Kritik. Denn allzuoft wird ihr aus wissenschaftlicher Akribie Detailhuberei, an der zumindest der Nichtexperte zu ersticken droht. Da werden seitenlang biographische Einzelheiten aneindergereiht, die die Autorin besser in Fußnoten verbannt hätte. Aber dort — in den Fußnoten — ist ebenfalls kein Platz, denn über eine dreiviertel Seite und mehr werden kleingedruckte Anmerkungen eingeschoben, die eigentlich in ein separates Kapitel gehörten. Der Zitatnachweis, der zumindest in einem populärwissenschaftlichen Buch an den Schluß des Kapitels gehört, wird hier in den Text eingeschoben, so daß in manchen Kapiteln jeder zweite Satz durch eine längere Klammer unterbrochen wird. Lesefreundlich ist das nicht. Manche Begriffe werden außerdem zweimal erklärt, andere wieder gar nicht; oder bin ich der einzige, der sich unter „Politisolatoren“ oder „kryptoblanquistischen Impulsen“ nicht auf Anhieb etwas vorzustellen vermag? Kurz, das Buch ist akademisch im schlechten Sinn. Es ist immer wieder erstaunlich: Die Devise Schopenhauers, komplizierte Dinge einfach auszudrücken, statt einfache Sachverhalte sprachlich zu verkomplizieren, diese Regeln haben sich bundesdeutsche Wissenschaftler im Gegensatz zu ihren angloamerikanischen Kollegen immer noch nicht zu eigen gemacht. Die Sichtweise Astrid von Borckes ist außerdem an einigen Stellen sehr einseiitg, so wenn sie die wahrhaft blutrünstigen Aktivitäten der amerikanischen CIA in Schutz nimmt und den US-Geheimdienst als Opfer einer Kampagne von links sieht.
Jede Menge Kritik also. Daß das Buch dennoch empfohlen werden kann, liegt vor allem daran, daß es das bisher einzige ist, das sich ausgiebig mit der „Weltmacht KGB“ unter Gorbatschow auseinandersetzt. Und — dies belegt die Autorin überzeugend — wer sich für die Chancen und Risiken von Glasnost und Perestroika interessiert, kommt am sowjetischen Geheimdienst nicht vorbei. Denn über die Auswahl der Führungskader in den Unternehmen und Behörden hat der KGB wesentlichen Einfluß darauf, ob Gorbatschows Reformen scheitern oder nicht. Inwieweit sich der sowjetische Präsident auf das KGB wirklich verlassen kann oder nicht, inwieweit er selbst dem Geheimdienst ausgeliefert ist, das ist — nach der Entwicklung der letzten Wochen — ungewisser denn je. Der Blick in die Geschichte, den dieses Buch bietet, stimmt nicht gerade optimistisch: Allzuoft war die Staatssicherheit bei der Absetzung früherer Parteiführer die treibende Kraft. Und so kommt die Autorin zum plausiblen Resümee: Solange der KGB in seiner jetzigen Form besteht, sei die gesamte Entwicklung in der UdSSR umkehrbar. Und dies wohl mit katastrophalen Folgen für die gesamte westliche Welt.
Astrid von Borcke: Unsichtbare Weltmacht KGB — steht sie hinter Gorbatschows Perestroika? Hänßler-Verlag, 34,80 DM.
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