: Im Mittelpunkt das Meer
Braudels „Entdeckung der Langsamkeit“ in der Geschichte ■ Von Ulrich Raulff
Vieles erträgt der gebildete Mensch mit Gleichmut. Selbst daß man ihm die Spitzen seiner Bildung, die Klassiker, ausreden wollte, hat er irgendwie verkraftet. Er hat sich daran gewöhnt, daß die professionellen Hüter der Vergangenheit ihre Heldenverehrung abgelegt und sich den kleinen Leuten und dem schmuddeligen Alltag zugewandt haben. Ganz abgesehen davon, daß häufig nur das Objekt des Kultes ausgetauscht, der Kult als solcher aber fortgesetzt wurde, blieb die Geschichte ja, was sie immer gewesen war, Bericht vom Tun und Leiden der Menschen in der Zeit. Nach wie vor konnte man sich mit seinen Helden identifizieren, lachen und weinen, ganz wie im Kino. Die Geschichte wurde von Menschen gemacht. Bis eines Tages — der Tag liegt mittlerweile 40 Jahre zurück, und nur die Bosheit des Zeitgeists und die Trägheit des Buchmarkts haben uns die Kunde bisher vorenthalten —, bis also eines Tages ein französischer Historiker herging und den Menschen vom Thron der Geschichte stieß. Wen lud er nun statt dessen ein, den leeren Platz des Herrschers einzunehmen? Ein Meer.
Die historische Hauptperson des großen Buches von Fernand Braudel ist das Mittelmeer. Philipp II. von Spanien, der Sieger von Lepanto, der unglückliche Kriegsherr der Armada, findet sich in die Statisterie abgeschoben. Denn das Geschehen der Geschichte beginnt und endet nicht mit den politischen, diplomatischen und militärischen Aktionen jener bewegten Epoche: sie sind nur das augenfällige Spiel auf einer hell beleuchteten Bühne. Braudel aber will die Mechanik der Bühne und die Architektonik der Anlage zeigen. Er will die Wende beschreiben, die sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts abzeichnet und um die Mitte des 17. vollzieht, die Wende von der mittelmeerischen zur atlantischen Ökonomie. Dieser Umbruch hat nicht nur den Weltmarkt der Waren- und Menschenströme, er hat auch die Weltgeschichte als Geschichte globaler Verflechtungen begründet. Und er hat, indem er den alten Kernbereich der historischen Entwicklung zwischen Orient und Okzident, das Mittelmeer, aus dem Zentrum des Geschehens rückte, endgültig die Antike beendet. Nicht der Untergang des römischen Reiches im 5.Jahrhundert markiert für Braudel das Ende der alten Welt, sondern der Zerfall des antiken Writschafts- und Kommunikationsraums.
Dennoch gehört Braudels Mittelmeerbuch nicht zu den seit Jacob Burckhardt verbreiteten Krisen- oder Konfliktgeschichten. Nicht der Wandel beschäftigt diesen Historiker primär, sondern das Beharren. Nicht weshalb sich mehr oder weniger plötzlich etwas ändert, will Braudel erklären, sondern wieso es das über so lange Zeit hinweg nicht getan hat. Nicht in rascher Veränderung, sondern in langsamer, nur in der Langzeitperspektive überhaupt wahrnehmbarer Bewegung liegt für ihn das Wesen der Geschichte — jedenfalls bis an die Schwelle unserer Gegenwart. Von daher ergibt sich der merkwürdige Stufenbau der historischen Zeiten, der das Buch berühmt gemacht hat und der „Entdeckung der Langsamkeit“ in der Geschichte Rechnung zu tragen suchte.
Die unterste, profundeste Schicht ist die der sogenannten géohistoire, d.h. die Beschreibung der räumlichen Gegebenheiten, der Verteilung der Elemente — Gebirge, Täler, Ebenen, Halbinseln, Inseln, Flußläufe, Meeresbuchten — und des Klimas: Faktoren, die der Geschichte vorausgesetzt sind, auch wenn sie diese nicht im einzelnen determinieren. Dies ist die Ebene der „quasi unbewegten Geschichte“ oder, wie Braudel auch sagt, der „sehr langen Dauer“. Darüber liegt eine zweite Zone, der der Mittelteil des Buches gewidmet ist. Es ist die Ebene der „in langsamen Rhythmen verlaufenden Geschichte“. Dies ist der Bereich der eigentlichen Sozialgeschichte. Unter dem Titel Kollektive Schicksale und Gesamtbewegungen schildert Braudel hier mit bewundernswerter Fülle an Details und Einsichten die demographischen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen im Mittelmeerraum des 16. Jahrhunderts. Über allem liegt, sozusagen an der rasch bewegten Oberfläche, die Schicht der eigentlich historischen Ereignisse, „die Wellen, die von den Gezeiten mit ihrer mächtigen Bewegung emporgetragen werden“, wie Braudel mit einer jener Metaphern, in denen sich der mimetische Charakter des Buches ausspricht, sagt. In diesem dritten Teil seines Werks beschreibt Braudel das politische Geschehen in Europa, Nordafrika und der Levante zwischen der Schlacht von Mühlberg (1547) und dem Tod Philipp II. (1598).
Den verschiedenen Zeitebenen und ihren jeweiligen prozessualen Mustern entsprechen verschiedene Akteure: die Menschheit in der Auseinandersetzung mit der Natur; miteinander verkehrende und Austausch treibende Gruppen; endlich politisch handelnde Individuen. Doch haftet allem menschlichen Handeln in Braudels Darstellung etwas merkwürdig Anonymes, wenn nicht Hilfloses an; die Menschen erleiden eher die Geschichte, als daß sie sie machen. Die eigentlich großen Akteure der Braudelschen Geschichte sind die nichtmenschlichen „Personen“.
„Mitspieler“ nennt Braudel sie selbst, und darin kommt das radikal Neue seiner Konzeption zum Ausdruck. Gewiß war er nicht der erste, der auf die historische Bedeutung von Boden, Wasser und Klima hinwies und natürliche Faktoren zur Erklärung der Menschengeschichte heranzog. Doch anders als bei seinen Vorgängern, bei denen Geographie und Ökologie nur die Staffage abgaben, vor der dann die „eigentliche“ Geschichte spielte, gehen bei Braudel menschliches Handeln und nichtmenschliche, natürliche Gegebenheiten eine unauflösliche Verbindung ein: gemeinsam bilden sie das Milieu des Mittelmeers. Diese Vorstellung eines „Milieus“ läßt sich nicht mehr so leicht nach „Kultur“ und „Natur“ auseinanderdividieren. So verfolgt Braudel, wie sich der Wechsel der Jahreszeiten, die Bewegungen der Herden, Fischschwärme und Flotten, die Rhythmen des Lebens und die der menschlichen Hand verbinden — zu großen, langsam verlaufenden Grundwellen, die Gesellschaften wiegen. Doch was sich so verführerisch materialistisch gibt, hat mit dem Histomat wenig zu tun. Die Geschichtsauffassung des Mittelmeerbuchs mündet, wie sein Autor oft genug bekundet hat, in extreme Skepsis angesichts der Möglichkeiten, der Freiheiten menschlichen Handelns. Braudels historische Ökologie ist ein um die Dimension der politischen Praxis verkürzter Materialismus. Sein Mittelmeer bleibt sich auf ewig gleich.
Erst recht gilt dies für seine „nichtmenschlichen Mitspieler“. Und hierin werden eben die Grenzen einer ökohistorischen Konzeption, die vor einem halben Jahrhundert entstand, spürbar. Letzten Endes bleiben für Braudel die natürlichen Gegebenheiten so etwas wie der feste Sockel der Menschengeschichte, der Sektor mit der geringsten, gegen Null tendierenden Veränderungsgeschwindigkeit, das große Trägheitsmoment; und im Schichtenmodell der Temporalmodi übersetzt sich diese Sicht in die Metaphorik der Tiefe. Doch hätte es nicht erst des Golfkriegs bedurft, um uns die Augen dafür zu öffnen, daß diese Konzeption der schnellen und der langsamen Agenten der Geschichte dabei ist, hinfällig zu werden. In immer weiterem Umfang werden Elemente der Ökosphäre, werden Wüsten, Meere, Klimata in Zonen beschleunigten Wandels — im Braudelschen Modell hieße das: in höhere Schichten — hineingerissen. Das klassische Zeitendifferential, die Verteilung von Statik (Natur) und Dynamik (Kultur) gerät durcheinander; die auf Tempo gebrachte Natur übt Rache.
Fernand Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipp II.; aus dem Französischen von Grete Osterwald und Günter Seib, 3 Bde., Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M.
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