: Neulich am »Stillen Don«
■ Kulturreporter Detlef Kuhlbrodt über die Eröffnung der Bier-, Wein- und Kulturwirtschaft »Stiller Don«
In der plötzlichen Kälte erkennt man die Wärme als Wert. Was man im Sommer schön findet — versyphte Hinterhöfe und da oben eine Wohnung und eine halbe Treppe höher das Außenklo —, erweist sich einmal im Jahr nur, denn der Körper vergißt am schnellsten, im Winter als äußerst hinderlich. Strategien gegen die Kälte werden entwickelt. Schreibtisch und Bett werden verrückt und um den Allesbrenner gruppiert. Während die Füße nachts frieren, schwitzt der Kopf. Oder umgekehrt. Dem Ansturm der Kälte von draußen gibt man nach und bleibt drinnen. In den besetzten Häusern, so stellt man sich vor, drängen sich alle in einem Zimmer aneinander und gehen nur in größeren Gruppen nach draußen, um ein Bier für Radio 100 zu trinken.
In der Abgeschiedenheit der Kälte, am U-Bahnhof Schönhauser Allee, sucht Uwe Windlich »einen Freund« und sehnt sich so sehr danach, daß er sein Begehren plus Telefonnummer in großen, ungeschickten Buchstaben an eine Wand geschrieben hat. Wenn er die zehn Minuten mitgekommen wäre, mit angemessen verächtlichem Blick das Schultheißschild über der Eckkneipe gemustert hätte, die sich qua Schild als Besatzergebiet zu erkennen gibt, wenn er mit zur feierlichen Eröffnung des »Stillen Dons« an den Humannplatz gekommen wäre, zur Vernissage von Jochen Hass, »Jahrgang 1917, der sich jahrzehntelang standhaft der von oben verordneten Bebilderung des ‘sozialistischen Alltags‚ verweigerte«, hätte er sicher ganz schnell einen netten Freund gefunden. Denn in der schönen Kneipe sind lauter FreundInnen, die sich die Hände reichen oder sich gegenseitig auf die Wange küssen. Neben dem roten Telefon an der Bar steht ein hübsches Plastekitschbild zu Ehren der ruhmreichen Sowjetarmee; ein dezentes Rot an den Wänden erwärmt das Herz. Auch Außenstehende kriegen ein paar Händedrücke geschenkt. Viele Gäste haben für Künstler und Kneipier Blumensträuße mitgebracht. Einige ältere Herren weisen sich durch Hut, Jackett und Jeans als Künstler aus.
Bis sechs hätten die Handwerker noch lärmend gehämmert, die Eröffnung begann um sieben; früher wäre hier eine Polizeiwache gewesen, und die Hausbewohner würden sich wohl wundern nun, wo doch früher hier immer Recht und Ordnung und Stille geherrscht hätten, erzählt Kneipier Jürgen Lemke, der zuvor als Marketingdozent dem Sozialismus kapitalistische Flausen in den Kopf gesetzt hatte. Man habe die Decke verstärkt und wolle vor allem Malern, Schriftstellern, Liedermachern, Kabarettisten, kurz Kleinkünstlern aus der ehemaligen DDR und dem sonstigen Osten, die Möglichkeit bieten, sich und ihre Kunst zu präsentieren. Begonnen hat man mit Jochen Hass. Osttypisch stellt Jürgen Lemke den 73jährigen Denkmalpfleger, der eigentlich in Carows Coming out mitspielen sollte, im öffentlichen Zwiegespräch vor: »Jochen; einige Worte zu deinen Bildern?« — »Ich?«
Nachdem der bescheidene Künstler seine Nervosität niedergekämpft hat, erzählt er von Bildern und dem eigenen Leben. Als er nach dem Krieg in Weimar, wo Bauhausabstraktionen angesagt gewesen waren, figürlich arbeitete, hätte man ihn als Faschist beschimpft; als er später, zu Zeiten des sozialistischen Realismus, eine Zeitlang abstrakt malte, hätte man ihn wieder als Faschist denunziert. »Man kann nur trommeln oder machen«, sagte er sich, widmete sich seinem Beruf als Denkmalpfleger und blieb mit seiner Malerei im Privaten.
Nicht das große Publikum habe er gesucht, sondern ein »du«. So beschäftigte er sich zu Hause mit dem Gesicht des Menschen. Der Mensch, so sagt er, zerfalle in zwei Typen; den Faun, der der Natur noch nahestünde, und den zivilisatorisch verformten Harlekin. Gegen die empirische Erkenntnis, in der es Europa bis zur Atombombe gebracht habe, setzt er die meditative »Wissensfindung« und fühlt sich dabei früheren Kulturen verpflichtet. Viele seiner gehörnten Faune, Pierrots, Selbstporträts oder die graublau zurückhaltenden Konterfeis junger Männer vor allem blicken von den Wänden des »Stillen Don« und erinnern ein wenig an die Picassos der blauen Phase. Hampelmänner sind die beiden deutschen Staaten, die er in den sechziger Jahren gemalt hatte; eigentlich um die DDR schwarz-weiß zu kritisieren, doch in der malenden Erkenntnisfindung Malprozeß sei ihm die DDR doch schöner und »fleischlicher« geraten als die bunte Narrenrepublik.
Am Tisch versinken die Gespräche in einem merkwürdigen »Als-ob-das-denn-während-des- Krieges-so-wichtig-wäre«. Ein Artikel im 'Volksblatt‘ über den irakischen Diktator als arabischen Helden ist mit »Gib Gas Saddam« überschrieben. Ein östlicher Senatsangestellter sieht die Apokalypse kommen und hofft, daß er nicht mehr dabeisein würde, und lacht den aus, der fragt, ob man als Ostbeamter denn inzwischen wenigstens 60 Prozent des Westgehalts bekäme: »30 Prozent, vielleicht.« Von den Narreteien des Medienabwicklers Mühlfenzl berichtet eine Medienfrau am Tisch: Oberabwickler Mühlfenzl hätte ein Sprechverbot ausgesprochen gehabt. All denen, die vor der Abwicklung über ihre bevorstehende Abwicklung sprechen wollten, wäre angedroht worden, daß sie dann in jedem Fall abgewickelt worden wären.
Ein Stammtisch bildet sich schon am ersten Abend des »Stillen Don«. Da sitzen lachende Männer in Knickerbockern neben einem schönen Dreigestirn aus Vater und zwei Söhnen und laben sich an Wein und Leberwurstbroten. Im Stimmengewirr verschwindet der Künstler und will nicht mehr auf Rosa v. Praunheim warten, der sich angekündigt hatte und später auch kommt und »den Nikolaus«, der ihn freudig begrüßt, nicht mehr wiedererkennt. R.v.P. berichtet, daß es im neueröffneten FAB-Fernsehen eine Redaktion gäbe, die sich ausschließlich mit dem Tod beschäftige. Während der »Stille Don« immer voller und immer weiter lärmt, frieren einem draußen die Ohren ab und glühen zu Hause dann rötlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen