: „Es sind unschöne Sachen passiert, aber nicht bei uns“
■ Ein brandenburgisches Kreisgericht versucht, den Anschluß an das bundesdeutsche Justizsystem zu finden/ Neue Gesetze, alte Richter und kein Unrechtsbewußtsein
Das backsteinrote Kreisgericht von Strausberg, rund 40Kilometer vor den Toren Berlins, hat so manches erlebt. Mit trotziger Sturheit hat es die Urteile der Nazijustiz ertragen, und äußerlich völlig unverändert überstand es auch 40 Jahre im Dienste der Werktätigen. Seit dem 3.Oktober 1990 erlebt das Gebäude nun eine neue Phase der Gerichtsbarkeit, und das Gemäuer strömt einmal mehr porentiefes Beharrungsvermögen aus: die Flure, die Türschilder, die Bänke, der kleine Toilettenverschlag — wie aus uralten Zeiten. Dabei soll doch auch in Strausberg schon jetzt alles anders sein. Seit dem 3. Oktober wird hier neues, westdeutsches Recht gesprochen, oder — wie es „Der Direktor“ des Kreisgerichts, Christine Fleischer, ausdrückt: „Eine Gerichtsbarkeit findet statt — so gut es uns möglich ist.“
Die Gesetze sind neu, die Richter sind — bisher — die alten. Von den fünf Frauen und zwei Männern ist niemand abgelöst worden, niemand freiwillig gegangen. „Schließlich hängt man am Beruf“, meint „Direktor“ Fleischer. Sie selber zum Beispiel ist seit 1982 „gerne Richter“. Vier Jahre davon hat sie Strafrecht gesprochen. Kurz vor der Wende trat sie die Nachfolge der scheidenden Kreisgerichtsdirektorin an — vorbei an dienstälteren KollegInnen. Warum gerade sie? Das kann sie sich heute auch nicht mehr erklären: „Da wurde man eben ausgeguckt.“ Schließlich waren ja alle anderen auch in der SED — bis auf einen, der hatte sich eine der Blockparteien zur Karrierestärkung ausgesucht.
Daß sie und ihre Strausberger Kollegen sich in ihrem Richterdasein jemals etwas hätten zuschulden kommen lassen? Nein, das kann Christine Fleischer nicht sagen. Spontan fällt ihr niemand ein, bei dem sie sich heute entschuldigen müßte, im Gegenteil: „Ich kann zu den eigenen Entscheidungen stehen.“ Sicher, in der DDR-Gerichtsbarkeit seien „auch unschöne Sachen passiert“, wenn zum Beispiel jemand allein deswegen seine Arbeit verlor, weil er einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Aber diese „unschönen Dinge“ passierten „Gott sei Dank nicht bei uns in Strausberg“.
Vier der sieben RichterInnen sind heute über 40, sie haben also etliche Jahre DDR-Justiz ausgeführt. Doch ein Nachdenken darüber scheint es bis heute nicht zu geben: „Man hat ja Recht gesprochen, wie das Recht eben war“, versichert Bettina Kude, mit dreißig Jahren die jüngste im Richterbunde, „man hat's doch nicht dem Staat zuliebe gemacht.“
Von ihnen weiß noch niemand, wer nach der Überprüfung durch die Richterwahlausschüsse übernommen wird. Bettina Kude hat mit ihren knapp vier Dienstjahren als Arbeitsrichterin da noch die unverfänglichsten Karten. Aber sie ist optimistisch, daß in Strausberg auch alle anderen bleiben können, „denn sonst würde ja alles im Chaos versinken“.
Drohendes Chaos und ein Wust neuer Aufgaben schützen die RichterInnen wie Knoblauchzehen vor der Begegnung mit dem Vampir Vergangenheit. Wer sich abendelang in das neue Strafgesetzbuch einzuarbeiten hat, wer erst die Sekretärin nach westlichen Gesetzestexten und Gerichtsformularen ins benachbarte Berlin schicken muß, wer nicht weiß, wie die vielen juristischen Fortbildungen mit der Kinderbetreuung unter einen Hut zu bringen sind, für den oder die reduziert sich die eigene Rolle im DDR-Staat nur allzu leicht auf die Kurzformel von Frau Fleischer: „Es gab in unserem Strafrecht bestimmte Rechtsnormen und verbindliche Anleitungen von obersten Gerichten, und die hatten wir umzusetzen.“
Jetzt werden die neuen Rechtsnormen umgesetzt und das — gezwungenermaßen — sehr reichlich. Der Arbeitsanfall im kleinen Kreisgericht ist extrem gestiegen. Die sieben RichterInnnen machen alles, vom Arbeitsrecht über Strafprozesse bis zu zivilen Vermögensstreitigkeiten. Die Zahl vor allem der jugendlichen Straftäter ist in die Höhe geschnellt, man verhandelt über „Diebstahl, Diebstahl und noch mal Diebstahl“. Und beim Arbeitsrecht hagelt es Rekorde: Im Januar hat es dort so viele Verfahren gegeben wie sonst in zwei Jahren. Und dabei hat der Kreis keine Großbetriebe, so daß das kleine Gericht auch in Zukunft nicht damit rechnen muß, mit Klagen gegen Massenentlassungen überschwemmt zu werden.
So hat man es in Strausberg meist mit Kündigungsschutzklagen von Forstarbeitern, Krankenschwestern oder Putzhilfen zu tun — das ist aufwendig genug und häufig auch komplizierter als an westlichen Arbeitsgerichten. Denn während sich die streitenden Parteien dort häufig mit einem Vergleich oder einer finanziellen Abfindung einigen können, fehlt den ehemaligen DDR-Betrieben einfach das Geld zu solchen außergerichtlichen Lösungen. „Früher war unser Arbeitsgesetzbuch übersichtlich. Da stand das Urteil innerhalb von einer halben Stunde. Heute sitzt man Stunden darüber, und es wird noch ein paar Jahre dauern, bis man sich fachlich sicher fühlt“, gesteht Frau Fleischer ein.
Aber es mache doch auch Spaß, versichert ihre Kollegin Kude mit leuchtenden Augen. Sicher, es sei ziemlicher Streß, meist sitzt sie bis spät in die Nacht über Akten und Fachliteratur, und das alles für ein Monatsgehalt von knapp 1.600 Mark brutto — und mit der Ungewißheit, ob man der Überprüfung standhält. Doch das viele Lernen „bringt ja auch was“. Und „das Schönste an der Arbeit ist, daß man den Bürgern, den Klägern und Beklagten ein neues Rechtsverständnis vermitteln kann“, sagt Bettina Kude — und sie meint das wirklich ernst.
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