Kann man das Glück filmen?

Ein Gespräch mit Patrice Leconte, dem Regisseur von „Monsieur Hire“ und „Der Mann der Friseuse“  ■ Von Gerhard Midding

taz: Monsieur Leconte, Ihre beiden beiden letzten Filme, „Die Verlobung des Monsieur Hire“ und „Der Mann der Friseuse“ sind sehr verschieden. Dennoch gibt es eine Gemeinsamkeit: beide sind Apologien männlicher Obsessionen, insbesondere des Voyeurismus.

Patrice Leconte: Ja und nein. Monsieur Hire kann man als Voyeur bezeichnen, denn im Französischen gibt es kein anderes Wort dafür. Ich würde lieber ein Wort erfinden, das vielleicht nicht so schön klingt, mir aber besser zu passen scheint: er ist ein „regardeur“, jemand, der es mag, zuzuschauen. Voyeur klingt zur sehr nach sexueller Perversion; er ist einfach jemand, der — wie wir, wie ich — anderen Leuten gern zusieht. Antoine in Der Mann der Friseuse ist ein Hungriger, ein Feinschmecker des Blickes, auch in seinem Fall möchte ich das Wort Voyeur nuancieren, es klingt mir zu schwer.

Zum zweiten: Natürlich haben beide Filme viel gemeinsam, aber das ist eher unbewußt als absichtlich geschehen. Wenn ich mir Rechenschaft ablegen will, so habe ich mit Monsieur Hire einen sehr dunklen, angespannten und verzweifelten Film gemacht. Wahrscheinlich habe ich Der Mann der Friseuse unbewußt als Gegensatz konstruiert: er ist hell und leuchtend, entspannt und optimistisch. Beide Filme verhalten sich zueinander wie die Schatten- und die Sonnenseite eines Berges.

Interessant ist doch, daß beide Filme vor allem von Frauen geschätzt werden, obwohl die weiblichen Figuren im Film eher Objekte der Sehnsucht als handelnde Subjekte sind.

Moment, ich wehre mich dagegen, daß die Frauen nur Objekte sein sollen. Daran habe ich keine Sekunde gedacht. Es ist richtig, daß sie die Motivation der Sehnsucht und des Begehrens darstellen. So ausschließlich geliebt zu werden und so angeschaut zu werden, wie Antoine Mathilde in Der Mann der Friseuse anschaut — das ist schon sehr schmeichelhaft. Wenn man eine derart idealisierte Liebesgeschichte erzählt — so schön wie das Leben, und doch noch schöner —, dann fällt es den Zuschauern offenbar sehr leicht, sich mit der einen oder anderen Figur zu identifizieren. Als ich den Film schnitt, hatte ich Angst, einen durch und durch maskulinen Film gemacht zu haben. Nicht unbedingt eine Männerphantasie gedreht, aber doch sehr stark eine männliche Perspektive eingenommen zu haben. Deshalb war ich besonders gespannt auf die Reaktionen des weiblichen Publikums. Ich war sehr glücklich, und auch sehr beruhigt, daß mir alle Frauen sagten: „Nein, wir möchten so geliebt werden wie Mathilde! Wir hätten gern einen Antoine gefunden!“

Funktioneren die Filme nicht auch deshalb als Apologien, weil die Männer in ihrer Obsession von einer solchen Unschuld und Reinheit sind?

Sprechen sie von Der Mann der Friseuse?

Nein, von beiden Filmen.

Ja, vielleicht gilt das tatsächlich für beide Filme. Aber im neuen Film ist das Motiv noch viel stärker, da finden Sie eine wirkliche Unschuld. Denn ich hege sehr viel Sympathie für Erwachsene, die sich eine starke Kindlichkeit erhalten haben. Jean Rochefort besitzt als Schauspieler genau diese Qualitäten, er besitzt das Verwundertsein eines Kindes, er ist nicht blasiert, sein Enthusiasmus ist noch nicht abgestumpft. Dennoch sieht man ihm an, daß er Lebenserfahrung besitzt. Und deshalb konnte ich Jean diese Rolle anvertrauen. Auch Monsieur Hire ist jemand, der sich ein Ideal geschaffen hat, aber ganz so unschuldig will er mir nicht erscheinen.

Verdankt sich der Unterschied zwischen den beiden Filmen nicht auch der Tatsache, daß im ersten Film die Liebessehnsucht nicht erfüllt, die Friseuse Mathilde aber erreichbar ist, wenn auch nicht unbedingt konkret wirkt?

Sicher. In Monsieur Hire entscheidet das Schicksal gegen die Hauptfiguren, die Obsession Antoines erfüllt sich jedoch. Sie sagen, Mathilde sei nicht wirklich konkret... nun, weil sie eine sehr stark idealisierte Figur ist. Der Mann der Friseuse ist kein realistischer Film, es ist ein hyperrealistischer Film. Hyperrealistisch in dem Sinne, wie es gewisse Gemälde der amerikanischen Schule gleichen Namens sind. Diese Maler haben die Realität genau kopiert, aber das Ergebnis auf der Leinwand war immer etwas schöner als die Realität. Der Mann der Friseuse ist also kein symbolischer Film, keine Fabel, er ist wie das Leben, oder besser: so, wie man sich das Leben wünscht. Und natürlich ist Mathilde ein Ideal, solch hübsche Friseusen gibt es in Wirklichkeit eigentlich nicht. Der Film ist wie ein Traum, der wahr wird. Gerade so, wie es eben auch Menschen gibt, die ihre Träume verwirklichen.

So sind auch die Kunden des Frisiersalons: solch skurrile Gestalten gibt es in Wirklichkeit nicht, sie wirken eher wie Geschöpfe von Antoines und Mathildes Phantasie.

Es ist seltsam, daß Sie diesen Eindruck haben. Denn ich wollte in erster Linie einen Film machen, der von Dingen handelt, die wirklich geschehen könnten. Es gibt meiner Ansicht nach nichts Imaginäres im Film. Ich gestehe, daß die Zeichnung der Kunden etwas Anekdotisches besitzt, sie sind sehr witzige Figuren, etwa die beiden Philosophen, die über die Existenz Gottes und den Tod diskutieren, es gibt dieses Ehepaar, das sich trennen wird etwa. Sie alle kommentieren die Geschichte von Mathilde und Antoine.

Für mich ergab die Skurrilität dieser Figuren auch einen Sinn, weil ich es mir schwer vorstellen könnte, das die beiden ein Verhältnis zu normalen Leuten haben könnten.

Ja, das stimmt. Sie haben zum Beispiel keine Freunde. Ich möchte noch einmal auf die Frage des Imaginären zurückkommen. Wie gesagt, für mich gibt es nichts dergleichen in meinem Film. Er erzählt von einem Jungen, der davon träumt, eine Friseuse zu heiraten und es später auch tut. Er ist sehr glücklich mit ihr, aber dann endet alles tragisch. Punkt. Ich habe aber viele Leute getroffen, die sich vorstellten, die Handlung sei von einem gewissen Punkt an der Traum des Jungen — Sie erinnern sich, die Szene, in der er auf dem Bett liegt und den Entschluß faßt, eine Friseuse zu heiraten.

Aber ich fühle mich viel zu sehr in der Realität und im Alltag verwurzelt, um mich im Imaginären zu verlieren. Für meinen Geschmack ist das ein vollständig realistischer Film. Idealisiert, aber realistisch.

Entsprang die Sorgfalt, die Sie für die Gestalt des Bildhintergrunds verwandt haben, auch diesem Wunsch nach Realismus?

Ja, gerade deshalb haben wir den ganzen Film im Studio gedreht: die Straßen, die Innenaufnahmen. Ich liebe diese Arbeit im Studio, ich kann dann jeden Moment im Film kontrollieren. Alles, was ich im Kopf hatte, konnte ich mit meinem Ausstatter besprechen, und der verwirklichte es dann. Aber die Studioarbeit bereitet mir auch Angst, denn ich fürchte immer, daß die Zuschauer sofort erkennen: „Das ist in einem Studio gedreht. Das ist Kino und nicht das wirkliche Leben.“ Das beunruhigte mich und deshalb habe ich mich bemüht, in jeder Szene das natürlichste, das realistischste Licht zu bekommen. Und ich wollte immer ein paar Statisten auf der Straße, ein paar Kinder, eine Dame, die spazierengeht, Passanten, die einkaufen etc. Ich wollte den Bildhintergrund lebendig gestalten, ohne daß dies dem Zuschauer auffallen sollte.

Eine Sache hat mich sehr überrascht: Ich nehme an, daß Antoines Begeisterung für Friseusen auch daher kommt, daß sie ihm — berufsbedingt — ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Warum ist er dann nicht eifersüchtig auf die anderen Kunden Mathildes?

Weil er keine Angst haben muß, daß die Kunden seiner Frau erfolgreich den Hof machen könnten. Eifersüchtige Leute sind meist sehr unausgeglichene Leute: sie lieben sich selbst entweder zu sehr oder zu wenig. Die Eifersucht ist eine entsetzliche Krankheit. Antoine aber liebt Mathilde mit einer solchen Stärke und Ausschließlichkeit, und er wird seinersets geliebt, so daß ihnen beiden nichts passieren kann.

Warum belügt Mathilde Antoine bei ihrer ersten Begegnung? Warum sagt sie, sie erwarte einen Kunden und vertröstet ihn auf die nächste halbe Stunde?

Das würde ich selbst gern wissen! Ich glaube, sie merkt, daß er ein besonderer Kunde ist, es liegt etwas in der Luft. Das mag zu Anfang nicht der Mann sein, auf den sie gewartet hat, aber sie ahnt, daß mit ihm etwas ganz Besonderes passieren wird und deshalb zögert sie das Vergnügen der Begegnung noch ein wenig hinaus.

Sie haben „Der Mann der Friseuse“ als einen leichten Film charakterisiert, aber dennoch war für mich das Motiv des Todes schon sehr früh gegenwärtig.

Ich stimme Ihnen zu. Es war zwar mein Wunsch, den Film als eine Folge von hellen, optimistischen und leichten Bildern erscheinen zu lassen. Aber trotzdem sollte es etwas Schweres und Dramatisches geben, das sanft auf diesen Bildern treibt. Eine Art Nebel, eine Beunruhigung, derer man sich immer bewußt sein sollte. Es ist die Unruhe Mathildes, die ihre Liebe zwar auslebt, aber letztlich doch spürt, daß diese endlich sein wird: eines Tages wird sie weniger schön und begehrenswert sein. Antoine ist demgegenüber viel unbekümmerter, er glaubt, das Glück würde ewig dauern.

Ein Gefühl des Verlustes stellt sich schon bei der ersten Einstellung Rocheforts ein, der sich allein die Haare schneidet, vor einem dunklen Hintergrund. War dies eine Entscheidung, die Sie schon im Drehbuch oder erst beim Schnitt trafen?

Nun, es war eine sehr spät getroffene Entscheidung, tatsächlich erschien mir dies erst nach der ersten Schnittfassung nötig. Ich sagte mir, es fehlt etwas am Anfang, das alles ist zu unbeschwert, wie eine Kindheitserinnerung aus einem Truffaut- Film. Man sollte nicht nur mit dem Gefühl der Leichtigkeit in den Film einsteigen.

Zum Thema Schnitt: Besonders die Art, wie die Szene geschnitten ist, in der der kleine Antoine entdeckt, daß Madame Shaeffer (seine erste Friseuse) keinen BH trägt, besitzt den unverschämten Blickrhythmus eines Voyeurs: es geht darum, hinzuschauen, dann wieder weg etc.

Die Funktion eines Filmemachers ist per se die eines Voyeurs, oder besser: eines „regardeurs“. Das ist ein Klischee und dieses Verhältnis hat es seit Beginn des Kinos gegeben: Man liebt Bilder, man liebt es, zuzuschauen, und deshalb sucht man Bilder.

Aber ich gestehe, daß das in diesem Film besonders exponiert ist. Wenn Sie eine Westernszene drehen, einen Indianerangriff etwa, dann käme niemand auf die Idee, Sie einen Voyeur zu nennen. Aber sobald Ihr Blick auf ein Dekolleté fällt, ist das etwas anderes.

Für mich ist das Verhältnis zwischen Voyeurismus und Kameraarbeit zutiefst aufregend. Meine letzten vier Filme habe ich selbst kadriert, ich habe selbst den Bildausschnitt bestimmt. Gewissermaßen bin ich also ein Voyeur, der sich selbst ständig Rechenschaft ablegt. Aber ich bin auch hinter der Kamera verborgen, wie hinter einem Fenster. Und das ist ein sehr aufregendes, vielleicht auch beunruhigendes Gefühl: Vielleicht will ich mich hinter der Kamera verbergen, nur um mich zu schützen? Bei meinen ersten Filmen war das anders; ich besaß noch keine genauen Kenntnisse über die Arbeit mit der Kamera und stand mit verschränkten Armen einfach daneben. Das ist keine bequeme Situation für mich gewesen, ich fühlte mich schutzlos, denn die Schauspieler konnten mich direkt anschauen und ich wußte noch nicht, daß ich mich hinter dieser großen Maschine verstecken könnte. Nun fühle ich mich sicherer: ich habe eine maximale Kontrolle und bin bereit, Wagnisse einzugehen. Deshalb glaube ich auch, daß meine letzten Filme viel persönlicher geworden sind.

Sie haben fast alle Ihre Filme in Cinemascope gedreht, das ist sehr ungewöhnlich bei Filmen wie Ihren beiden letzten, die dem entsprechen, was wir in Deutschland ein Kammerspiel nennen.

Ja, seit einigen Jahren drehe ich nur noch in Cinemascope und ich finde, dieses Format sollte nicht nur epischen Filmen wie Lawrence von Arabien vorbehalten bleiben. Diesen Moment könnte man zum Beispiel in 'scope aufnehmen: erst eine Großaufnahme Ihres Mikrofons, dann eine Halbtotale mit uns hier am Tisch. Mir ist dieses Format sehr lieb, weil es ein Gleichgewicht schafft, das dem Auge sehr angenehm ist. Aber für meine Vorliebe gibt es noch einen anderen Grund: Ich will das Fernsehen ärgern! [lacht] Was eigentlich keine so gute Idee ist, denn fast alle Filme werden bei uns — und ich denke, in Deutschland wird dies nicht anders sein — mit dem Fernsehen koproduziert. Wenn Sie als Regisseur etwas bekannter sind, können Sie es sich erlauben zu sagen: „Egal, ich drehe in 'scope!“ Meist sind die Fernsehanstalten einverstanden, aber wenn die Filme dann im Fernsehen laufen, dann muß ich sie — so steht es leider in meinem Vertrag — nach dem PanScan-Verfahren dem Bildschirmformat anpassen: Ich muß meine 'scope-Bilder abtasten, um einen geeigneten Ausschnitt zu bekommen. Das ist furchtbar! Andererseits ist es mir egal, denn ich mache meine Filme fürs Kino, da soll man sie sich anschauen.

Ein französischer Journalist hat übrigens meinen Umgang mit dem Format sehr schön beschrieben, und das können Sie ruhig auch in Ihrer Zeitung drucken: er schrieb, ich drehe Miniaturen in Cinemascope.

Ist Ihr Umgang mit dem Format nicht unterschiedlich? „Monsieur Hire“ etwa erschien mir als Film, der die Gesichter wie Landschaften behandelt, im neuen Film sind es die Körper.

Die meisten Leute erinnern sich an Monsieur Hire als einen Film der Großaufnahmen. Das stimmt nicht ganz. Natürlich gibt es Großaufnahmen der Details: Augen, Türgriffe etc. Aber es gibt auch viele Totalen. Ein sehr bösartiger französischer Journalist hat geschrieben: der Film ist ideal geeignet fürs Fernsehen, es gibt nur Großaufnahmen. das hat mich ungeheuer geärgert.

Haben Sie bei der Besetzung es Films bewußt Wert darauf gelegt, die Nebenrollen ausschließlich mit Unbekannten zu besetzen, um nicht das Interesse von Ihren Hauptfiguren abzulenken?

Unbedingt. Es hätte eine Menge Schauspieler gegeben, mit denen ich befreundet bin und die diesen kleinen Rollen hätten Profil geben können. Aber dann hätten die Figuren zuviel Aufmerksamkeit erhalten: Die Zuschauer hätten sich gesagt: „Ah, da kommt Jean-Claude Brialy ins Geschäft!“ oder „Sieh an, Jacques Villeret spielt einen Kunden!“ Dann wäre der Film in diesen Momenten stehen geblieben, man hätte die Szenen nur als den Gastauftritt eines bekannten Schauspielers begriffen. Genau deshalb wollte ich auch eine Unbekannte für die Rolle der Mathilde. Ich wollte nicht, daß Jean Rochefort die Tür zum Friseursalon öffnet, Mathilde erblickt und es geht ein Raunen durch den Zuschauersaal: „Catherine Deneuve spielt eine Friseuse!“ Nein, die Zuschauer sollten genauso überrascht sein wie Antoine, sie sollten sich sagen: „Diese Frau ist wunderbar! Wer ist sie? Ich würde sie gern kennenlernen.“

Anna Galiena ist tatsächlich wunderbar, vor allem ihr Lächeln, das so vieldeutig ist: es steckt Komplizenschaft darin, vielleicht auch ein bißchen Ironie...

Ironie? Da kann ich Ihnen gar nicht zustimmen! Sie kennt Antoines Obsession genau, aber sie nimmt ja auch an ihr teil. Es ist auch ihre eigene Obsession: sie liebt seine Zärtlichkeiten, seinen Blick, sie liebt es, ihn im Friseursalon zu lieben etc. Sie besitzt keine Ironie, auch kein überhebliches Verständnis, vielleicht eher eine gewisse Weisheit, ein Bewußtsein der Lebensfülle. Aber sie geht in der Beziehung auf, steht nicht distanziert außen. Er schaut sie — sie genießt es. Er ist zärtlich zu ihr — und sie genießt es.

Tatsächlich hat man nie einen Zweifel an ihrem gemeinsamen Glück. Das ist eigentlich überhaupt kein Filmstoff: die Geschichte von glücklichen Menschen.

Genau, das ist das Klischee: das Glück ist nicht filmisch. Aber dieses Klischee reizte meinen Widerspruchsgeist. Meiner Ansicht nach ist das Glück nämlich sehr filmisch.