: Kantscher Trost
■ Betr.: "Was ist Aufklärung? Was ist Revolution" von Michel Foucault, taz vom 22.1.91
betr.: „Was ist Aufklärung? Was ist Revolution?“ von Michel Foucault, taz-Special vom 22.1.91
Viele DDR-Eingeborene fragen sich längst, ob von dem, was sie im Oktober 1989 gewollt/ getan/ gehofft haben, irgend etwas übriggeblieben ist. Gibt es eine Perspektive, eine wirkliche Hoffnung in der Richtung der Oktoberereignisse 89: Demokratisierung, Humanisierung, Ökologisierung, Solidarisierung? Die Antworten fallen bei denen, die im Oktober wirklich beteiligt waren, gegenwärtig resigniert aus.
Das taz-Special hielt einen für mich überraschenden und hilfreichen Denkansatz bereit: Immanuel Kants Antwort auf die Frage, wie ein historisches Ereignis geartet sein muß, um beweisen zu können, daß „das menschliche Geschlecht in beständigem Fortschreiten zum Besseren sei“. Der Königsberger geht dabei auf die Französische Revolution ein. Man kann aber getrost von dieser zeitgenössischen Illustration abstrahieren und kann die Kantsche Textpassage als gute Antwort auf die Frage lesen, ob etwas von unserem Oktober bleibt. Kants Antwort lautet ja! In seiner Sprache: „Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern [...] — diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer [...] eine Teilnehmung [...], die nahe an Enthusiasm grenzt.“
Es kommt also bei dieser Revolution letztlich gar nicht an auf die „von Menschen verrichteten Taten oder Untaten, wodurch [...] alte glänzende Staatsgebäude verschwinden und andere an deren Statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen. Nein: nichts von alle dem. Es ist bloß die Denkungsart der Zuschauer, welche [...] eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnehmung der Spielenden auf einer Seite, gegen die auf der andern [...] laut werden läßt, so aber [...] einen [...] moralischen Charakter des Menschengeschlechts [...] beweist, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solcher ist [...]“
Wenn wir also Sympathie, „Enthusiasm“ hatten — und wir hatten sie, sie kam von allen Seiten —, dann ist geradezu gleichgültig, wie der momentane Ausgang der Angelegenheit sich gestaltet. Der Fortschritt zum Besseren ist vielmehr gewährleistet an einer Stelle, an der ihn nichts und niemand hindern kann, in der Sympathie unserer Sympathisanten vom Herbst 89, die uns noch zugute kommen wird. Ein schwacher Trost? Nein, ein kategorischer. Von Kant. Dr.Hans-Peter Gensichen,
Lutherstadt Wittenberg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen