: Statt Wirtschafts- nun blaues Wunder
Kommunalfinanzen schlimmer als zu „finstersten DDR-Zeiten“/ Schwere Rechenfehler im Einigungsvertrag/ Waigel wäre froh, wenn Rombergs Prophezeiungen halbwegs zuträfen ■ Von Volkmar Meier
Berlin. Kalte Wohnungen, Müll auf ausgetretenen Gehsteigen, tote Straßenbahnlinien, geschlossene Polikliniken — dieses Szenario vom Zusammenbruch der öffentlichen Dienstleistungen war dem planwirtschaftlichen SED-Staat in harten Winterzeiten oft vorhergesagt worden. Jetzt droht es im Osten der vereinigten Bundesrepublik Realität zu werden.
Kommunen, Wohnungsbau- und Nahverkehrsbetriebe sind finanziell am Ende. Zum Jahreswechsel hat sich der Bund getreu des Einigungsvertrages aus weiten Teilen des von der DDR übernommenen Subventionsgeflechts verabschiedet. Die Folge ist, daß die Mieten nicht einmal mehr die Heizkosten decken, Städte wie Leipzig oder Schwerin ihre Angestellten bald nicht mehr bezahlen können und Busse und Bahnen im Land Brandenburg nur noch mit mit Notkrediten Woche für Woche auf die Strecke geschickt werden können. Die Schweriner Stadtväter errechneten bereits jetzt eine kommunale Pro-Kopf-Verschuldung von 5.000 Mark.
Der Präsident des sächsischen Landkreistages, Reinhard Geistlinger, sieht die Finanzen auf einem Niveau, „das selbst finsterste Zeiten in der früheren DDR übertrifft“. Der Zusammenbruch des öffentlichen Dienstes erstreckt sich bereits auf Polizei und Justiz. Der Generalstaatsanwalt von Mecklenburg-Vorpommern, Alexander Prechtel, meldet ein Justizchaos am Rande des rechtlich Vertretbaren.
Eine durchschlagende Finanzmisere
Die durchschlagende Finanzmisere in allen öffentlichen Kassen östlich von Elbe und Werra ist eine direkte Folge gravierender Rechenfehler im Einigungsvertrag. Die Finanzen der ostdeutschen Länder und Kommunen waren im kühnen Glauben auf ein baldiges Wirtschaftswunder nach der D-Mark-Einführung einfach auf das Fundament schematisch übertragenen Bundesrechts aufgebaut worden.
Die Steuerquellen werden im Zuge des Aufschwunges schon sprudeln, hieß es. Schon damals hatte es an Warnern nicht gefehlt: Der Ostberliner SPD-Finanzminister Walter Romberg läutete im vergangenen Sommer die Alarmglocke und warnte vor einem Defizit der neuen Länder für 1991 in Höhe von 20 Milliarden Mark und Gesamtschulden bis 1994 von insgesamt 90 Milliarden Mark. Dafür wurde Romberg gefeuert. Der gelernte Informatiker und damalige DDR-Chefunterhändler Günther Krause konterte, von einer „Zweitklassigkeit und katastrophalen Verschuldung“ der Ost-Länder im Vergleich mit dem alten Bundesgebiet könne „überhaupt keine Rede sein“. 1994 würden die Ostländer eine Gesamtverschuldung von 44 Milliarden aufweisen. Dies ergebe eine Länderschuld von gerade 2.750 Mark pro Kopf, rechnete Krause fröhlich aus. Heute wäre Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) zufrieden, wenn es bei den Zahlen bliebe, die Romberg damals sein Amt kosteten und ihm wahre Haßtiraden von seiten der Union einbrachten.
Die Schatzmeister der mehrheitlich CDU-regierten neuen Länder haben für dieses Jahr aber bereits ein Loch von über 40 Milliarden errechnet. Bonn läßt das ganz kalt: Zur Abwendung der Pleite ostdeutscher Gemeinden müßten die neuen Länder in die Bresche springen, sie seien ja im Moment noch nicht zahlungsunfähig, bemerkte das Bonner Finanzministerium am Freitag.
Statt eines Wirtschaftswunders erlebt Ostdeutschland sein blaues Wunder: Wenn der Winter mit Notkrediten gerade überstanden sein wird, steht erst die richtige Katastrophe ins Haus. Eine Entlassungswelle wird über die fünf neuen Länder fegen, wie sie Deutschland letztmalig in der Weimarer Republik erlebt hat. Wenn im Frühjahr die Kündigungsschutzabkommen auslaufen und es mit der vorherrschenden „Kurzarbeit Null“ vorbei ist, wird in der ehemaligen DDR mindestens jeder dritte Erwerbstätige arbeitslos sein, schätzt der Präsident der Metallarbeitgeber, Werner Stumpfe.
Jeden Tag werden bevorstehende Liquidierungen von Großbetrieben oder Massenentlassungen angekündigt: Interflug, Werften, Elektro- Apparate-Werk Treptow, das Maschinenbauunternehmen Takraf, Halbleiterwerk Frankfurt/Oder ... Auch West-Berlin gerät mit in den Sog der kenternden Industrie in der Ex-DDR, wie der Rückzug von SEL aus Berlin beweist. Eigentlich hatte die Bundesregierung für die Zeit nach dem kommenden Sommer eine Trendwende in der ehemaligen DDR prognostiziert. Wenn der Golfkrieg noch mehrere Wochen dauere, werde dies negative Konjunkturauswirkungen haben, bemerkt der neue Vorsitzende des Bundesverbandes der Industrie, Heinrich Weiss nüchtern. Eine Verlangsamerung der Konjunktur hatte Bonn aber im ohnehin längst überholten Finanzierungsgerüst zur deutschen Einheit überhaupt nicht eingeplant. afp
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen