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Standbild: Erleben aus zweiter Hand

■ "Ausflüge": Über H.M. Enzensberger..., Sonntag, ZDF, 10.45 Uhr

Manchmal sollen am Bahnhof Hamburg Dammtor scharfe, spitze Schreie zu hören sein. Laute zwischen Hund und Eule — ungeniert hinausgeschrien in einer Laune des Übermutes. Wenn die Schreie irgendwo in der Schwebe bleiben — Frechheit und Klage gleichzeitig betonend —, dann war er es: Hans Magnus Enzensberger, Provokateur und Melancholiker in einem. Martin Walser hat diese Szene einmal beschrieben. Und Wiltrud Mannfeld stellt sie an den Anfang ihrer Betrachtung — quasi als These über einen streitbaren Intellektuellen.

Doch dann, nach einem weiteren poussierlichen Intermezzo über die Legende vom fliegenden Robert, die Enzensberger als Wunsch des Verschwindens interpretiert, verschwindet die Autorin plötzlich selbst — in den Büchern des von ihr Porträtierten. Damit begibt sie sich auf ein Feld, das sich für das Medium Fernsehen seit jeher als schlüpfrig erwiesen hat. Literarische Bilderspaziergänge haben immer etwas vom Erleben aus zweiter Hand und trotz permanenten Bemühens, die roten Fäden Enzensbergerschen Denkens durch sein Werk zu verfolgen, kann der Zuschuer kaum den Wunsch unterdrücken, selbst dem Band Ach Europa! hervorzukramen und die Erzählungen ungekürzt nachzulesen. Es ist eben jenes Geheimnis der Literatur, daß wir nicht mit Frau Mannfeld die Straßenbahn von Lissabon benutzen müssen, um uns vorstellen zu können, was in Hans Magnus Enzensberger vorgegangen ist, als er die Linie 28 als das „schönste Kino der Welt mit ständig wechselndem Programm“ beschrieb.

Von der Person Enzensberger ist über Enzensbergers literarische Programmatik zum Thema Europa hinaus so gut wie nichts zu erfahren. Die Interviewpassagen kommen aus dem Off wie ein Klappentext zum Buch. Allein in den Gedichten blitzt etwas mehr auf, denn er liest sie selbst. Wie er sie liest, wo er betont, wann er leise wird, das ist ein Erlebnis, das nur das Fernsehen bieten kann. Hier ist der Film am dichtesten an der Person Einzensberger, hier gibt ein schwer Zugänglicher sich preis — wenn auch nur einen Wesenszug seines widersprüchlichen Charakters. Die Gedichte seien ein Versteck, von dem aus er Dinge äußern könne, die er sich sonst nicht zu sagen traue, gesteht Enzensberger ganz zum Schluß über seine heimliche Melancholie.

Wiltrud Mannfeld beläßt es dabei — ihre Eingangsthese von der Ambivalenz zwischen Frechheit und Klage widerlegend. Bei ihr bleibt Enzensberger ein zwar kluger, aber fast unpolitischer Kopf, dem ein so brillanter Essay wie sein Hitler-Hussein-Vergleich in der vergangenen Woche im 'Spiegel‘ gar nicht zuzutrauen ist. Christof Boy

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