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Zu Tisch bei Stanislawskis

Tschechow und das Moskauer Künstlertheater/ Zur Wiederaufnahme von Peter Steins „Kirschgarten“-Inszenierung an der Berliner Schaubühne  ■ Von Simone Schneider

Ich erlebe mit meinen Stücken nie das normale Glück des Autors, sondern irgendein sehr merkwürdiges, schrieb der Dichter und Dramatiker Anton P. Tschechow wenige Tage vor seinem Tod.

Seine engagierte Antwort auf die Krise des russischen Theaters am Ende des 19. Jahrhunderts lautete: Die Schriftsteller müssen ihr eigenes Theater besitzen. Sollten doch die jungen Autoren, wie zuvor Ostrowski, Molière und Shakespeare, ihr Schreibpult wieder an die Rampe stellen. Und während er also allen Nachwachsenden den Ratschlag gab, sich im szenischen Handwerk zu bilden, anstatt die Nasen in Amüsierstückchen französischer Machart zu stecken, erhob sich im Dunkeln des Parketts bereits eine alte Zunft und schmiedete an anderen Pulten neue Pläne: Regiepläne.

War Tschechow noch davon überzeugt, daß in seinen Stücken doch alles geschrieben steht, nicht zuletzt wegen der ausführlichen Bühnenanweisungen, so wurde mit der Geburt des Regietheaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr vom Blatt, sondern nach Plan gespielt. Vorbei die Zeit, als das Dichterwort und die Stimme des Schauspielers ausreichten. Ehemals Vermittlungsinstanz zwischen beiden, war der Regisseur nun eigentlicher Schöpfer der Aufführung. Alles speiste sich fortan aus seinem Geiste. Er trug (und trägt) die künstlerische Gesamtverantwortung für Form, Inhalt und Aussage, und manchmal schreibt er die Geschichte weiter.

1898 eröffneten Konstantin S. Stanislawski und Vladimir Nemirowitsch-Dantschenko das Moskauer Künstlertheater. Glaubte man bis dahin das russische Theater noch fest in der Hand der Bärenführer, schafften die beiden Direktoren mit ihrem Unternehmen den Anschluß an europäischen Standard. Mit gründerzeitlichem Selbstbewußtsein und in gemeinsamer Regie produzierten sie den Tschechowschen Traum, in dem sich der Autor allerdings selbst kaum wiedererkannte: Ich werde mich Ihnen fügen und staunen, ich sitze sowieso immer mit offenem Mund bei Ihnen im Theater. Da gibt es gar nichts zu reden: was immer sie auch machen werden, alles wird sehr schön sein, tausendmal besser als alles, was ich mir einfallen lassen könnte.

Nach der Uraufführung des Kirschgartens, die am 17. Januar 1904 im Moskauer Künstlertheater stattfand, glaubte Tschechow sein Stück allerdingsruiniert. Die Empfindlichkeit eines Autors ab- und unsere eigene Erfahrung mit dem Regietheater hinzurechnend, muß man heute sagen, es war inszeniert. Doch um 1900 waren die Rollen noch nicht klar verteilt. So versuchte Stanislawski Tschechow immer wieder ans Regiepult zu zerren, wo dieser, die Zeichen der Zeit verkennend, zu lachen anfing: Was ihn so erheiterte, war nicht herauszubekommen: war es der Umstand, daß er einem Regisseur gleich an diesem bedeutsamen Pult saß oder weil er das Regiepult für überflüssig fand?, fragte sich der Regisseur. Tschechow gibt uns darauf keine Antwort, außer vielleicht diese: Er schlägt Stanislawski vor, die Regiebücher zusammen mit den Stücken bei seinem Verleger Marx zu publizieren.

Die Regiebücher Stanislawskis weisen Spuren jener geschichtlichen Trennung zwischen Autor und Regisseur auf, die Stanislawski bei den Proben zumKirschgarten in die Worte zusammenfaßt: Eben zeigten sich die ersten Blüten, da erschien der Autor und brachte uns alle durcheinander. Die Blüten fielen ab, jetzt kommen neue Knospen...

Stilblüten

Was da Blüten trieb, war sein eigener Stil, und Stanislawski legte dabei keine falsche Bescheidenheit an den Tag. Nach dem Versuch, auf den Trümmern des Theaters von Pompeji zu rezitieren, kommt er zu dem Schluß, daß die Kunst der Schauspieler des antiken Griechenlands nicht sehr groß sein konnte, wenigstens von unserem Standpunkt aus. Dieser war jedoch schon 1904, nach dem Tode Tschechows, zur klassischen Form erstarrt. Muß das Stück real gespielt werden (wie etwa Tschechow) oder in einer anderen Art, à la Maeterlinck?, fragt er den norwegischen Dramatiker zu dessen Spiel des Lebens. Soviel Sinn für stille Größe hatte seinen Preis. Die Künstler wurden zu Lebzeiten mumifiziert und in das staatliche Museum der neuen Sowjetrepublik gestellt. Zwangsverordnet vom Kommissariat für Volksbildung spielte man noch 1929 die ureigensten Dichtungen der ersten Stunde: den Tschechowschen Traum, als Pause im sozialistischen Aufbau, und Maeterlinck, märchenhaft in einer Sonntagsmatinee für Arbeiterkinder.

1904, nachdem Stanislawski im Moskauer Künstlertheater bereits Die Möwe, Onkel Wanja und die Drei Schwestern zur Uraufführung gebracht hatte, mußte er Tschechow gestehen: Ich war an etwas unklare Eindrücke beim ersten Lesen ihrer Werke gewöhnt. Die Lücken im Verständnis füllte er mit der ihm eigenen szenischen Phantasie. So fanden sich Tschechow und Maeterlinck zuerst einmal im klingenden Getöse der Wunderwelt eines Regisseurs wieder, der keine Landschaft in der Natur gegen ein gutes Bühnenbild tauschen wollte, denn:Auf der Bühne ist sowohl das Leben als auch die Natur — schöner.

Rosa Himmel

Der Realismus des Künstlertheaters hatte von Beginn an wenig mit der Gegenwart und gar nichts mit der Wirklickkeit gemein. Vielmehr war er zu einem Darstellungsstil geworden, der längst Vergangenes zurückzitierte und Totem neues Leben gab. Menschen des 19. Jahrhunderts: sie rauchen, essen, trinken, hüllen sich fortwährend in geschmackvolle Plaids und Decken, tragen mondänes Reisegepäck durch irgendwelche Gutshäuser, sie hassen und lieben sich sowie ihre Bediensteten. Diese untergehende Welt, die der Autor niemals unkommentiert stehenließ, spielte sich im Moskauer Künstlertheater programmatisch an die Rampe. Sie war unverderblich eingeimpft in die Seelen der Künstler, die diese auch 1921 noch unverlierbar mit sich trugen, wie es Robert Musil nach einem Gastspiel in Prag zu beschreiben weiß: Dies ist keine Schauspieltruppe, sondern eine wandernde menschliche Gemeinschaft.

Gerade in der sakralen Verklärung der Vergangenheit waren die ersten Inszenierungen immer schon Gegeninszenierungen, und zwar in Richtung rosa Himmel, so ein beschriebener Lichteffekt im Kirschgarten. Gen diesen sollten bereits die Drei Schwestern ihre tränengefüllten Augen drehen, um den Mut machenden abschließenden Gedanken des Autors, der für viele schwere Minuten eine Entschädigung ist, durch mimisches Spiel zu unterstützen. Freilich mußten sie ihren Text dabei mit möglichst viel Schwung sprechen, um dem von Stanislawski vorgesehenem Jubilee gerecht zu werden.

Stanislawski antwortete auf die Innovationsversuche Tschechows, demNathan der Weise gar zu langweilig erschien, mit einer Reprise des bürgerlichen Erbauungstheaters — nach allen Regeln des Kunstschönen. Und wenn es dem Autor schon technisch unmöglich war, das Theater als eine Kanzel zu benutzen, so half Stanislawski mit den Mitteln eines neuen Handwerks, wenn auch ungehobelt, nach. Inszenierungen wie Tschechow waren bald das Markenzeichen des Unternehmens. Die Möwe, einstmals Symbol eines gemeinsamen Abbruchs, wurde emblematisch an die Pforten des Künstlertheaters genagelt, und sie erlangte damit Unsterblichkeit: als Wappentier.

Die Amme ist tot

Gegen derlei Vereinnahmung wehrte sich der Autor schon zu Lebzeiten. Der Kirschgarten ist eine Reaktion auf den sich verselbständigenden Darstellungsstil der Künstler. Tschechow ahnte, daß für das junge Ensemble spätestens nach seinem Umzug in den hoch technifizierten Theaterneubau mit Stellwerk und Drehbühne die Gefahr bestand, um die eigene Achse zu kreisen. Erlauben Sie uns, in einer Pause einen Eisenbahnzug mit Rauchfahne vorüberfahren zu lassen?, fragt der die klingende Stille so sehr liebende Stanislawski den Autor.

Stanislawskis Orchestrierung des Kirschgartens umfaßte zahlreiche Geräusche aus Feld und Wiesen: Da gibt es ein Hirtenflötchen, das er eigens mit einem Phonographen aufgenommen hatte, man hört Pferde schnaufen, Kühe muhen, ein Schaf blöken und eine Herde brüllen. Vogelgezwitscher. Ein Wachtelkönig singt in der Ferne, und die Frösche beginnen mit ihrem Konzert, ja sie quaken gar im Chor, während dazu entferntes Hundegebell erklingt. Tschechow versuchte den Einfallsreichtum zu bremsen und setzte dem abfahrenden Zug ein Notsignal: Wenn man einen Eisenbahnzug ohne Geräusche zeigen kann, dann — bitte. Seinem Selbstverständnis als Theaterautor treu bleibend, wollte er mit dem Kirschgarten wieder frischen Wind in die damals schon nach Luft ringenden Seelen der Künstler hauchen.

Zuerst einmal ging er dabei ganz medizinisch vor. Er setzte die füllig gewordene Gesellschaft auf Diät. Tolstoi muß sehr unter dem Eindruck der Inszenierungen Stanislawskis gestanden haben, als er behauptete, die Tschechowschen Helden kämen nicht weiter als vom Sofa bis zur Speisekammer und zurück. Wsewolod Meyerhold, Schüler Stanislawskis und Regisseur der zweiten Generation, rekapituliert: In „Hedda Gabler“ frühstückte man in der Szene zwischen Tesman und Tante Juliane. Ich erinnere mich noch genau, wie der Darsteller des Tesman aß, aber die Exposition des Stückes begriff ich nicht. Tschechow kam dieser Leidenschaft zuvor. Statt des Frühstücks, das im ersten Akt der Drei Schwestern bei Stanislawski zu einer wahren Schlemmerei ausartete (neben allerlei Naschwerk ließ der Regisseur auch eine sehr große Namenstagspastete mit Kohlfüllung kredenzen), gab es nur eine saure Gurke für Charlotta. Aber der Patient zeigte sich wenig einsichtig, und Stanislawski träumte auch für den ersten Akt des Kirschgartens von einemimprovisierten Abendessen. Obwohl es gegen drei Uhr nachts ist und die soeben aus Paris zurückgekehrte Ranewskaja nach eigener Aussage nur einen Kaffee vor dem Zubettgehen trinken will, sollte es unter den Künstlern wie immer üppig zugehen: Brote werden mit Butter bestrichen, man schneidet sich Wurst und Käse ab. Ein Huhn wird mit den Fingern gegessen. Man wischt sich den Mund mit Taschentüchern ab und, nachdem Firs die Servierten gebracht hat, mit diesen. Usw. usf. — Stanislawski konnte sich letztere Abkürzung leisten. Dienten dieAlltagshandlungen ehemals der Wahrscheinlichkeit des Spiels, waren sie dem Ensemble längst schon zu einer unwahrscheinlichen Selbstdarstellung geworden. Irgendwo zwischen Text und Spiel trafen sich Autor und Regisseur, z.B. in diesem Kunststück der Charlotta: Als sie am Tisch vorbeikommt, nimmt sie ein Stück Wurst, wirft es in die Luft und fängt es mit dem Mund auf.

Stanislawski zeigte sich unersättlich in seiner jungen Kunst, und so reichte ihm das Personal, das ihm sein Hausdichter in die Hand gab, oftmals gar nicht aus. Er erweitert die Besetzungsliste mit der Komparserie um tragende Rollen. In den Drei Schwestern spielten die Amme, das Stubenmädchen, die Köchin, der Hauswart, diverse Burschen etc. halblaut ihr eigenes Drama: Die dicke Amme beschimpft im Flüsterton Anfissa, und das Stubenmädchen spricht geheimnisvoll, während derBursche und der Hauswart einen kleineren Koffer über die Bühne tragen.

Im Kirschgarten läßt Tschechow das Hauspersonal endlich laut sagen, was es denkt. Er schrieb ein Stück für die Gouvernante, den Kontoristen, das Stubenmädchen und die gesamte Dienerschaft. Nur das Drama der Amme findet nicht mehr statt, denn, so läßt Tschechow eine seiner Personen sagen: Die Amme ist gestorben.

Da blieb für Stanislawskis emsige Statisterie nicht mehr viel zu tun. Immerhin schickt er noch zwei Bauern auf den Weg, die im vierten Akt mehrmals Gepäck von oben durch den Raum tragen, um die Architektur des Hauses zu erklären, wie er sagt. Aber wahr war damals schon, was auch heute noch gilt: daß nämlich dem Regisseur, wenn er den Dialog mit dem Autor aufgibt, schon bald nichts mehr einfällt.

Alte Kisten

Die junge Regiekunst zeigte sich, einmal dazu entschlossen, alles allein zu machen, in vielem unbeholfen und griff deswegen in alte Kisten. Hatte das Publikum in Petersburg bei einem Gastspiel des Künstlertheaters statt des Tschechowschen Dramas Drei Schwestern ein rührseliges Melodram gesehen, auf das dann auch prompt eine Parodie erschien: Neun Schwestern und kein Bräutigam, so blieb der Regisseur selbstbewußt: Das Stück wird kritisiert, die Inszenierung gelobt.

Die Menschen in Stanislawskis Bühnenwelt sind gut oder böse, traurig oder vergnügt, sie lieben oder hassen. Wenn im Kirschgarten Warja dem Lopachin versehentlich einen Stock über den Kopf schlägt, und dann zornig und spöttisch (Bühnenanweisung des Autors) um Verzeihung bittet, so notiert Stanislawski zu dieser Stelle: Zornig und spöttisch? - das verstehe ich nicht ganz. Er sieht nach diesem Schlag die Pause eines Liebesdramas, eine Warja, die verlegen ist, und einen Lopachin, der irgendwo in der Tiefe seiner Seele sogar spürt, daß er den Schlag verdient hat. Wenn die schöne Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranewskaja im dritten Akt mit Simeonow-Pistschik tanzt, obwohl das ja wirklich nicht der Moment ist, so tut sie das bei Stanislawski immerhin mit besorgtem Gesicht. Für Stanislawski war das Stück eben eine Supertragödie — Tschechow, der die Vorlieben des Regisseurs kannte, nannte es schon präventiv eine Komödie.

Stanislawski entdeckte den seelischen Realismus für die Bühne, und an den Seelen interessierte ihn deswegen zuerst einmal eines: das große seelische Drama. Alle Abweichungen vom Rollenfach waren dabei ein Fall für den Doktor. So kurierte er beispielsweise die drei Schwestern und ihre schwachen Nerven mit einer eigens dazu eingerichteten Hausapotheke. In seiner Inszenierung bekommt Irina im dritten Akt einen hysterischen Anfall (allerdings mitPause im hysterischen Anfall), doch Tropfen und Tabletten stehen im Hause Prosorow mit seinen gereizten Frauen stets in Reichweite. Tschechow antwortet im Kirschgarten auch darauf und gibt gleichzeitig zu verstehen, was er als Mediziner von dieser Art der Konfliktbewältigung hält: Pitschik nimmt die Schachtel, schüttet sich die Pillen auf die Hand, bläst darauf, steckt sie in den Mund und spült sie mit Kwaß herunter. Der Regisseur, selber Neurastheniker, wie er mehrmals betonte, und Zeit seines Lebens Anhänger der Homöopathie, kann dem Autor darin nicht folgen, er streicht die Stelle.

Wo er kann, rettet Stanislawski das, worüber die Ranewskaja imKirschgarten nur noch charmant spottet: die schöne reine Seele. Stellt der Text sich ihm in den Weg, greift der Regisseur kühn zu entsprechendem Untertext, der alles wieder ins rechte Lot rückt. Will z.B. die Ranewskaja, in Liebeshändel nicht sehr zimperlich, die arme Warja unter die Haube bringen, dann aber bitte mit sehr viel Feingefühl, da sie weiß, wie heikel diese Angelegenheit ist.

Gutes Essen, gutes Benehmen, gute Seele: Stanislawski blieb dabei, auch wenn Tschechow es ihm damit schwer machte. Da gibt es einen Lopachin, der plötzlich ein unartikuliertes Meckern ausstößt, der gute alte Firs hat zwei Jahre wegen Komplizenschaft zum Mord gesessen, und hartherzig wird ihm mehrmals nahegelegt, er solle lieber heut als morgen abkratzen. Und hatte das Künstlertheater es gerade geschafft, die Kunst von jedem Aussatz zu säubern und statt einer gemeinen Schaubude einen Tempel zu errichten, verlangt Tschechow für die Rolle der Charlotta sogar Zirkusnummern. Er wollte provozieren, und Stanislawski stand vor einem Rätsel. Auch der sonst so beflissen daherredende Untertext schwieg: Charlotta sagt mit verschiedenen Stimmen: „Zappel, zappel.“ Aus irgendeinem Grund wiederholt sie das pausenlos.

usw. usf.

Das Ensemble war sprachlos. Es fand auf die Antwort des Autors keine Antwort mehr. Sie spielten auch den Kirschgarten realistisch wie Tschechow. Und wo der gute Ton gar nicht mehr möglich war, ließen sie die Maschinen sprechen. So wechseln sich Charlottas bauchrednerische Repliken mit dem Phonographen ab.

Die Regiebücher Stanislawskis sagen vielleicht wenig über die Aufführungen im Künstlertheater aus. Sie sind, außer im Falle der Drei Schwestern, vor Probenbeginn geschrieben und wurden während des eigentlichen Arbeitsprozesses modifiziert. Sie zeigen aber eindeutig, gerade in den Abkürzungen (usw. usf., s.o.!), daß der Tschechowsche Traum in Serie gegangen war. Brauchte Stanislawski für das Regiebuch zur Möwe noch mehrere Wochen, so schrieb er das für den Kirschgarten in nur drei Tagen. Der Text als Prototyp spielte dabei nur noch eine Nebenrolle, und Tschechows Traum von Ostrowski, Molière und Shakespeare erwies sich endgültig als überholt.

Die Modell- bzw. Meisterinszenierungen wurden flächendeckend gestreut. Man verkaufte die Regiebücher in die russischen Provinzen. Allerorts konnte man bald die Stücke Tschechows fortan nach der mise en scène des Künstlertheaters sehen. Dann fiel der Eiserne Vorhang. Der Rest war Folklore, und als solche exportierte man das Künstlertheater in die westliche Welt.

Alte Pracht

Sah schon die Berliner Presse von 1922 beim Gastspiel des Künstlertheaters in Stanislawskis Kunst eine Vollendung im Sinne eines Abschlusses einer Zeit, die für Frühlingsstimmung anderes als Nachtigallenflöten gefunden hat, so blüht der Kirschgarten 1991 wieder unverwüstlich in alter Pracht. Tschechow hatte einst eine Vision: ein weißer Blütenzweig kriecht durch ein Fenster. In Peter Steins Inszenierung fällt gleich ein ganzer schwarzer Ast durch die Scheibe und reißt das Publikum aus den schönsten Träumen von Gutshäusern, Bediensteten, Plaids etc. Dieser Einfall ist einer der wenigen, die der Regisseur seinem Meister Stanislawski hinzuzufügen hat, ansonsten lernen die Bilder der Uraufführung laufen.

Hatten die Moskauer Pioniere sich immerhin ehrlich darum bemüht, das Theater von der Genremalerei zu befreien, so ist die Inszenierung bei aller Kunst in der Schaubühne dort, wo sie angefangen hat: Rußland um 1900. Wieder werden die beiden Bauernburschen auf den Weg geschickt (4. Akt), und wie sie scheinen auch die Seelen der Künstler immer noch zu wandern. Das grenzt an ein Wunder: Sieht nicht der herrliche Peter Simonischek schon aus wie der große Stanislawski selber? Und wieder ist auf der Bühne sowohl das Leben als auch die Natur — schöner. Man riecht den Duft von frischgeschnittenem Heu, hört die Vöglein zwitschern, sieht den rosa Himmel, und die Provinzialisierung der Kulturlandschaft tarnt sich hier als zweiter Frühling.

Konstantin S. Stanislawski: Regiebücher zu „Drei Schwestern“ und „Der Kirschgarten“. Herausgegeben von der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz.

ders.: Mein Leben in der Kunst. Henschel-Verlag, Berlin 1987.

ders.: Briefe 1886-1938. Henschel-Verlag, Berlin 1975.

Anton Tschechow: Das dramatische Werk. Diogenes-Verlag, Zürich.

ders.: Briefe. Diogenes-Verlag, Zürich 1979.

Wsewolod E. Meyerhold: Schriften. Henschel-Verlag, Berlin 1979.

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