: Späte Sühne für Todesschüsse an der Mauer
Was haben Grenzer zu erwarten, die nach dem DDR-Schießbefehl handelten/ Über das Strafmaß muß jeder Fall individuell betrachtet werden ■ Von Silke Janko
Salzgitter. Die in Salzgitter (Niedersachsen) innerhalb von 30 Jahren gesammelten 40.000 „Vorfälle“ werden derzeit von Staatsanwälten gesichtet und an Gerichte in den neuen Bundesländern zur Vorbereitung rechtsstaatlicher Verfahren übergeben. Die Datei der im Januar zur „Beweismittel- und Dokumentationsstelle Salzgitter“ umgewandelten einstigen Erfassungsstelle enthält rund 80.000 Namen — 70.000 von Opfern und rund 10.000 von Beschuldigten. Registriert sind auch die 197 Todesfälle an der Mauer.
Was haben jene Grenzer heute zu erwarten, die nach dem DDR- Schießbefehl handelten? Die Rechtslage dazu ist durchaus nicht eindeutig. Für Staatsanwalt Hans-Jürgen Grasemann, Sprecher der Erfassungsstelle, gilt grundsätzlich das Tatort- und Tatzeitrecht. Obwohl die DDR für die Bundesrepublik weder Ausland noch Inland war, endete an der deutsch-deutschen Grenze die bundesrepublikanische Rechtsprechung. Jedoch gilt heute das Verbot einer belastenden rückwirkenden Rechtsprechung. Das Töten war aber in der DDR und in der BRD unter Strafe gestellt.
Für einen besonderen Bereich jedoch wurde es in der DDR mit dem Schießbefehl sanktioniert, womit dieser Staat auch gegen den von ihm 1976 anerkannten UNO-Pakt für bürgerliche und politische Rechte verstieß. Grasemann zitierte, anspielend auf die deutsche Nazivergangenheit, ein Urteil des Bundesgerichtshofes, nach dem jeder Staat die Freiheit hat zu bemessen, was Recht sei oder nicht. Aber in einen gewissen Kernbereich des Menschen dürfe kein Staat oder keine Obrigkeit eingreifen. „Wenn mit dem Schießbefehl die Todesstrafe für künstlich Kriminalisierte vollstreckt wurde, dann ist das ein Kernbereich, in den der Staat nicht eingreifen darf“, interpretierte Grasemann die rechtliche Situation.
In bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel setzte der DDR-Staat das Reiseverbot mit der Todesstrafe durch. Der einzelne Soldat, der dieses „Urteil“ vollstreckte, habe mit einer relativ milden Strafe zu rechnen. Der Sprecher der Erfassungsstelle belegte seine Prognose mit einem Urteil eines Stuttgarter Schwurgerichtes vom Oktober 1963, das einen 21jährigen Grenzer wegen „Totschlags“ zu einem Jahr und drei Monaten Freiheitsentzug verurteilt hatte. Der junge Mann hatte einen 19jährigen Flüchtling bei einem versuchten Grenzübertritt im Harz erschossen und ist Monate später selbst geflüchtet. Grasemann bezeichnete das vor 28 Jahren gefällte und bisher einzige Urteil gegen einen DDR- Grenzsoldaten als „sehr moderat und modern“. Die Akten verbürgen in der Begründung zu diesem Urteil, daß den Soldaten die geringste Schuld an seiner Tat treffe. „Sie fällt in höherem Maß der DDR-Führung zu“, heißt es darin.
Nach den Worten Grasemanns sei die Schuld jedes einzelnen zu prüfen und anhand der Situation abzuklären. Viele der mehr als 500 geflüchteten Grenzer hätten in Salzgitter von ihren Ängsten bei den Streifengängen berichtet, auf denen sie hofften, „daß ja keiner kommen möge“ und sie zwinge, die Waffe zu gebrauchen. Es gab jedoch auch viele andere Beispiele, bei denen das unbedingte Töten von Menschen ohne Wenn und Aber erfolgt ist.
Grasemann berichtet von einem Beispiel, das den „unbedingten Tötungswillen mancher Grenzsoldaten“ beweise. Am 15. September 1988 durchschwamm ein 18jähriger DDR-Bürger die Elbe in Höhe des Landkreises Lüchow-Dannenberg. Er schaffte es, kam am anderen Elbufer an. Die Flucht war geglückt, also nicht mehr zu verhindern. Trotzdem feuerte ein Grenzer noch vier Schüsse ab, von denen einer ein Rückendurchschuß war. Der Flüchtling lebt heute noch, ist jedoch sein Leben lang gezeichnet.
Über das Strafmaß müsse nach den Worten Grasemanns jeder Fall individuell betrachtet werden. Nach der Strafprozeßordnung verjährt Totschlag nach 20 Jahren. Alle Fälle vor 1970 dürften also ruhen, es sei denn, der Bundestag würde ähnlich wie für die Zeit von 1933 bis 1945 ein Aussetzen der Verjährung für die Zeit der Mauer beschließen.
Analog sieht es für Mißhandlungen in den Strafvollzugseinrichtungen aus, über deren Verjährung ein höheres Gericht entscheiden müsse. Von den 30.000 in Salzgitter dokumentierten politisch Verurteilten sollen nach eigenen Angaben rund zehn Prozent mißhandelt worden sein. Gleiches gibt auch die Menschenrechtsorganisation amnesty international an. In den Salzgitter-Akten geistern unter den Tätern „Spitzenreiter“ mit 85- bis 100maliger Erwähnung. Besondere Mittel solcher Gefängniswärter waren, so Grasemann, das über mehrere Stunden dauernde Anketten der Gefangenen, bei denen sie die Arme hoch über den Kopf strecken mußten und dabei nur noch auf den Zehen stehen konnten. Auch der Wasserkarzer war in den DDR-Gefängnissen nicht unbekannt. Strafrechtlich ist mit den Mißhandlungen einfacher umzugehen als mit dem Schießen. Gegenwärtig werden in Vorermittlungen die Akten nach strafbaren Handlungen geprüft und an die Gerichte des Tatortes abgegeben. Bei den Opfern stoße man dabei auf viel Unverständnis, da diese meinen, es könnten unter Umständen dieselben Richter „ihren Fall“ wieder aufgreifen. Was die Richter selbst betrifft, hält Grasemann jeden für belastet, der in politischen Verfahren mitwirkte. Das müsse jedoch nicht zwangsläufig zur Entfernung aus der Justiz führen. Man müsse sorgfältig und differenziert entscheiden. „Es gibt auch etliche Richter, die eine Zierde des Rechtsstaates sein werden“, fügte der Staatsanwalt hinzu. Von den 2.800 noch vom letzten DDR-Justizministerium für den Dienst in der neuen Justiz benannten Richtern waren jedoch knapp 40 Prozent mindestens einmal in Salzgitter erfaßt.
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