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Merksätze aus der »Arche Noah«

■ »Drei Künstler aus Gugging« in der Otto Nagel Galerie Wedding

Zum drittenmal seit 1984 stellt das Kunstamt Wedding Künstler aus Gugging, einer Landesnervenklinik in Niederösterreich, vor. Seitdem es dort dem Arzt und Psychiater Leo Navratil vor zehn Jahren gelang, einen Pavillon für die Maler und Zeichner einzurichten, läuft die Gugginger Bilderproduktion und bestückt kontinuierlich Ausstellungen in Museen, Kunstvereinen und Galerien.

Von Katrin Bettina Müller

Schon in den fünfziger Jahren entdeckte Leo Navratil in den Zeichentests, die er in der Heil- und Pflegeanstalt Gugging als Mittel der Diagnose benutzte, den Reichtum der durch keine Konventionen gefilterten erzählenden Formen in den Bildern seiner Patienten. Von der Wiener Künstlerszene der sechziger Jahre, die den Wahnsinn als besondere dionysische Qualität österreichischer Kultur etablieren wollte, ermutigt, begann Navratil die Botschaften aus den Gebieten jenseits der Vernunft als Kunstwerke zu publizieren. Die Zeichner und Maler aus Gugging fanden bald so große Anerkennung, daß schließlich 1981 die Einrichtung eines eigenen Hauses für Künstler möglich wurde. Navratil selbst beschrieb den Pavillon als »eine Arche Noah und gelebte Utopie« innerhalb des Krankenhauses: »Das Haus der Künstler, ein alter Pavillon mit seiner individuellen Bemalung, bildet eine Art Gegenpol zu den Aufnahmeabteilungen in den modernen Neubauten. Während dort das ‘Normalisierungsprinzip‚ herrscht, die Aufgaben der Heilung, Resozialisierung und Rehabilitation im Vordergrund stehen, gewinnen die Bewohner unseres Hauses gerade aus ihren Abweichungen von der Normalität und aus jenen seelischen Zuständen, die die Psychiatrie zu beseitigen trachtet, ihre künstlerische Fähigkeit.« Aber selbst diese privilegierte Stellung innerhalb der Psychiatrie kann nicht über die Vorzeichen der Internierung, die der Autonomie der Künstlern eine Grenze setzt, hinwegtäuschen.

Anders als die seit Jahrzenten in Gugging produktiven Künstler August Walla und Johann Hauser, die unabhängig von Therapieformen ihre differenzierten Bildsprachen ausformten, gehören Johann Fischer, Franz Kernbeis und Heinrich Reisenbauer zu einer Generation der Gugginger Zeichner, die erst unter den besonderen Bedingungen des Künstlerhauses — der freien Zeiteinteilung, dem Angebot an Räumen und Materialien, den Ausstellungen in den Fluren — eine eigene Bildproduktion entwickelten.

»Die erwachsenen Söhne, in allen Familien, bei uns in unserem Bundesstaat ‘Österreich‚, mit unserer schönen Bundeshauptstadt ‘Wien‚, müssen 1,72 Meter Körpermaße haben, ohne Unterschiede, ohne Ausmaße, ohne Ausnahmen, mit Köpfelhaarfarben! Auf aber nur mit den Schuhe!« Mit diesem Satz über die normative Menschengröße beginnt einer der Texte, mit denen Johann Fischer in schönster Schulschrift auf ordentlich mit dem Lineal gezogene Linien den leeren Raum zwischen seinen Figuren füllt. »Die erwachsenen Söhne«, in gelb-braun-schwarze Kostüme mit den abgesetzten Ärmeln, schrägen Bändern, Westen und Rüschen gekleidet, lassen aus langen Strohhalmen Seifenblasen aufsteigen. Auf anderen Blättern wird Kopfball gespielt oder rast die freiwillige Feuerwehr zum Einsatz. Ob sportliches Spiel oder handwerkliche Arbeit: Fischer zeigt Spezialisten am Werk, skizziert ihre Gerätschäften. Seine Texte, oft mit Floskeln wie »Unser souveränes Österreich« eingeleitet, ahmen die Formen statistischer Berichte, landeskundlicher und historischer Informationen nach. Schrift und Bild ergänzen sich zu einer kuriosen Enzyklopädie, die Wissen und Künste nach einer eigenen Systematik ordnet. Die Bestätigung einer normativen Weltordnung durch einen, der aus ihr herausgeflogen ist, scheint Überanpassung und subversive Pervertierung zugleich. Der Zeichner rächt sich in seiner lammfrommen Anbiederung an einer Welt der Merk- und Lehrsätze. Manchmal rutschen in seine verrückte Österreichfibel deutliche Spuren einer repressiven Moral. Mitten in ein Informationsblatt über die österreichisch-ungarische Schafzucht klemmt er einem Mann folgenden Text unter die Achsel: »Nicht sexuelle Beteiligung nicht nein nicht nein nicht sind No 5 strengstens verboten.«

Heinrich Reisenbauers Dingreihungen liegen zwischen Warenhauskatalog und Illustrationen aus dem Rechenbuch: Kämme, Zäune, Sessel, Koffer, Kästen, Schreibfedern und Aquarien malt er Stück für Stück in mehreren Reihen übereinander. Seine akribischen mit Schülerfleiß ausgeführten Zeichenübungen gewannen die Chance, als ästhetische Artikulationen der Aneignung der Dingwelt anerkannt zu werden, wahrscheinlich erst vor dem Hintergrund der Popkunst, die den Objektfetischismus thematisierte und die die Mittel der Wiederholung und Reihung in den Rang der Kunst erhob.

Ob Franz Kernbeis Kühe oder Schiffe zeichnet: jedes Ding präsentiert er als lebendiges Individuum, zu ständigen Verwandlungen bereit. Sein »Hubschrauber« wächst in hasenohrartigen Rotationsblättern aus; der Schornstein der »Lokomotive« ragt wie eine Nase aus dem Lokomotivgesicht, in dem ein beleuchtetes Fenster das Auge bildet. Die vier Beine und der Schwanz der Kuh erinnern an die Zitzen eines Euters. Was immer Kernbeis auch mit seinen verschlungenen Linien umschließt, greift mit Fingern in den Raum, zipfelt wie ein Gewächs in Blütenblättern aus, wittert wie eine neugierige Nase. Verwandt den anthropomorphen Wesen von Hans Arp, verfügt in seinem Kosmos jede für sich existierende Einheit über die Fähigkeit des Wachsens und der sinnlichen Wahrnehmung ihrer Umwelt.

Ausstellungen und Verkäufe der Bilder der Gugginger Künstler, die im Haus der Künstler und auf Tourneen betrieben werden, wurden von Navratil und seinem Nachfolger Johann Feilacher als therapeutisches Mittel auf dem Weg der Integration verstanden, um den Gugginger Künstlern die Anerkennung ihrer Profession zu sichern und sie über eigenes Geld verfügen zu lassen. Zwiespältig bleibt die Annäherung an ein stabiles Selbstwertgefühl und die versuchte Gleichstellung mit professionellen Künstlern über den Verkauf ihrer Arbeiten, denn dies beinhaltet eine ständige Ausbeutung ihrer Kreativität, statt sie als persönlichen Reichtum zu bewahren.

Drei Künstler aus Gugging — Johann Fischer, Franz Kernbeis, Heinrich Reisenbauer. Bis 16. März 1991. Otto Nagel Galerie Wedding, Seestraße 49, di-fr 10 Sa 12-16 Uhr.

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