Die Verrücktheit ist schwarz

■ Zum 20. Filmfestival in Rotterdam

Daß auch andere Filmfestivals Filme zeigen, kann niemand verübeln. Daß sich das Forum der Berlinale um möglichst viele Originalbeiträge bemüht, ist ebenfalls sein gutes Recht. Daß den internen Querelen um das Recht der ersten Vorfühung diesmal jedoch Thomas Harlans neuer Film Souvenance zum Opfer fiel, ist bedauerlich für alle, die ihn nicht bei der Premiere in Rotterdam sehen konnten. Der zusammen mit Anna Devoto realisierte Film wurde kurz vor den Berliner Filmfestspielen beim Festival in Rotterdam aus der Taufe gehoben — und prompt strich das Forum ihn aus dem Programm. Dabei handelt es sich um eines der erstaunlichsten Filmwerke der jüngsten Zeit.

Harlan entdeckte auf Haiti ein über Jahrhunderte mündlich tradiertes Gedächtnis von Tod und Auferstehung. Souvenance (soviel wie „Erinnerung“) bewahrt dieses Gedächtnis als elementaren Lebens- Grund der kreolischen Nachfahren afrikanischer Sklaven, denen auf Haiti um die Wende zum 19. Jahrhundert herum die erste unabhängige „schwarze“ Nation gelang. Die „folie noire“ des Gedächtnisses wiedererweckt Haitis legendären Herrscher Jacques I. als den Vater jeden Haitianers. Harlan ließ sich so weit auf die „pure folie“ der mythischen Familiensaga ein, bis er gänzlich hinter „seinen“ Film zurücktreten konnte. Unmerklich, gleichsam „natürlich“, gleitet der Zuschauer in das Mysterium von Voodoo und Totenritus, um die lebendige Erinnerung zu vergegenwärtigen. Das Bild entzieht sich eindeutiger Determinierung und spricht „für sich“. Keine Rede von Inszenierung, alles bleibt an seinem angestammten Platz. Ruhige Einstellungen ohne Zwischenschnitte erwarten und erzeugen eine meditative Geduld. Geräusche nicht als lautmalerisch-exotische Kulisse, sondern buchstäbliche Ton-Spur als Indiz des „Eigentlichen“ im Alltäglichen. Die Kamera (der Zuschauer) ist immer schon dabei, bevor sich etwas „ereignet“. Blick auf eine — in perspektivischer Verkürzung — endlos dem Horizont zulaufende Straße. Plötzlich jagen, von links in das Bild einfallend, Kinder einem rasselnden Metallreifen nach, unmittelbar gefolgt von dahinpreschenden Pferden. Gewissermaßen im Schatten dieser Sensation kommt eine Frauengestalt unter leuchtend rotem Schirm unwirklich rasch näher, die Kamera weicht vergeblich zurück, die Gestalt entschwindet über den rechten Bildrand. Wie im Delirium verharrt der Blick auf der Straße, sich des „Außer-sich“-Seins (bzw. des Seins „außer sich“) zu vergewissern. „Diese Verrücktheit ist schwarz“, sagt Harlan. Sie schwebt über jedem Kopf, ohne Schmerzen, ohne Fieber. Sie breitet sich aus wie eine Katastrophe in den Träumen.

Breiten Raum gab Rotterdam dem Schaffen Alexander Sokurovs, darunter der kürzlich abgeschlossenen dreizehstündigen Dokumentation Leningradskaja restrospektiva („Leningrader Retrospektive“). Auch der neue Spiefilm des russischen Enfant terrible hatte in Rotterdam Premiere und bekam den Preis der FIPRESCI-Jury zugesprochen (Wettbewerbe lehnt das Festival ab). In Krug vtoroj („Der zweite Kreis“) — der auch auf dem Berlinale-Forum zu sehen sein wird — kehrt ein Junge zu seinem verstorbenen Vater zurück, um dessen Begräbnis vorzubereiten. Doch bleibt die äußere Handlung zugunsten einer spirituellen Annäherung an universales Leiden und Tod im Hintergrund.

Bei Sokurov liegt die in überzeitlichem Sinne an ihren Syndromen leidende Gesellschaft im Koma. Der niederländische Fotograf Ed van der Elsken (1925-1990) erfuhr den eigenen Tod als plötzlichen Einbruch in individuelles Lebensglück. Das autobiographische Dokument seines Sterbens (Bye) versteht sich als gnadenloses Testament physischen und psychischen Verfalls. Ein filmisches Tagebuch, das in seiner Not die Grenzen des Zumutbaren leugnet.

Ganz unspektakulär ging der Iraner Abbas Kiarostani vor und befragte Schulanfänger über ihre Hausaufgaben (so auch der Filmtitel). Die Antworten erscheinen zunächst harmlos. Erst in deren endlos-monotoner Abfolge wird deutlich, daß die mechanisch wiederholten Einzelausgaben einem repressiven Erwartungsschema gehorchen. Vergeblich wehrt sich einer der Schüler gegen die übermächtigen Ängste, die ihm die Sprache verschlagen und wider Willen zum stummen Zeugen der Anklage machen; dem iranischen Publikum blieb der schonungslose Blick auf alltägliche Opfer von Demütigung und Entmündigung bislang vorenthalten. Mit einem Pensum von annähernd 400 Filmen kann es Rotterdam mit den führenden Festivals des Kontinents aufnehmen. Eine Entscheidung über die Weiterführung seines Direktorats in der Nachfolge des legendären Hubert Bals behielt sich Marco Müller bis Mitte Februar vor. Roland Rust