: Es war wie beim Schach. Die Kriege sind anders geworden
■ Ein Gespräch mit dem französischen Mittelalter-Historiker Georges Duby
Wie hat sich im Laufe der Jahrhunderte der Krieg verändert; wie die Auffassung vom Krieg?
Georges Duby: Angesichts dieses Phänomens stehen wir vor einer „Invariante“, einer Art Konstante. Es gibt keine menschliche Gesellschaft, die nicht eine solche oder ähnliche Aktivität entfaltet hätte. Sicherlich, die Art, wie die Kriegführung von den Menschen wahrgenommen wird, die ändert sich mit der Zeit. In der Feudalzeit, der Zeit also, mit der ich mich als Historiker befasse, ist ganz offensichtlich, daß die Konflikte nicht dieselbe Funktion und, so möchte ich sagen, denselben Status hatten wie heute.
Und doch wird man den Eindruck nicht los, daß sich zumindest die Rituale des Krieges nicht radikal geändert haben...
Ja. Da gibt es etwas, das mit einer Tiefenstruktur des menschlichen Verhaltens korrespondiert. Tatsächlich werden die eigentlichen kriegerischen Handlung durch immer wieder vergleichbare Gesten eingeleitet. Man beginnt mit der Herausforderung des Feindes... Gewiß, der mittelalterliche Krieg war vor allem eine Methode, den Gegner zu schwächen, nicht ihn zu zerstören. Der Krieg unterschied sich damals jedoch deutlich von der Schlacht: An einem bestimmten Punkt entschieden sich die feindlichen Ritter gemeinsam, ihren Konflikt und ihren Zwist vor ein Gottesgericht zu bringen. Also war die Schlacht eine Art ritualisiertes Duell innerhalb eines bestimmten Feldes, das mit dem Untergang des einen der beiden Kontrahenten enden mußte. Er hatte alles in die Waagschale geworfen, und er verlor alles. Wie beim Schach. Der Gegner wurde getötet, aber er war die einzige Person, die man in der mittelalterlichen Schlacht töten wollte. Und das macht einen beachtlichen Unterschied zu heute aus.
Ist es möglich, eine Parallele zwischen dem Krieg am Golf und den Kreuzzügen zu ziehen? Damals sprach man vom Grab Jesu, heute vom Völkerrecht. Heute wie damals waren ökonomische Gründe bei dem Krieg im Spiel.
Es gibt viele offenkundige Beziehungen. Aber es ist vor allem Saddam Hussein, der diese Aspekte in den Vordergrund stellt. Er erinnert an Saladin — jenen Führer, der für eine sehr kurze Zeit die Einheit der islamischen Kräfte gegen die Kreuzritter herzustellen vermochte, die sich im Heiligen Land festgesetzt hatten. Saddin rief gegen sie zur Jihad auf. Es handelt sich hier um eine der ersten Manifestationen des arabischen Strebens, den Krieg zu heiligen, ihn in den Dienst Gottes zu stellen, wie es andererseits auch die Kreuzritter getan hatten. Also, da besteht eine sehr enge Parallele, die vor allem von irakischer oder, genereller, islamischer Seite erlebt wird. Denn der Konflikt am Golf hat diesen Verlauf genommen: Ausgehend von materiellen Dingen wie dem Ölpreis hat er eine immaterielle Form angenommen, er wurde zu einer göttlichen Angelegenheit.
Und von seiten des Westens?
Nein. Da gibt es nicht dieselbe Sichtweise. Zum Glück wird er nicht als ein Heiliger Krieg angesehen. Wenn schon, dann eher als ein gerechter.
Professor Duby, glauben Sie, daß es sich um einen gerechten Krieg handelt?
Nein. Ich persönlich halte es für sehr schwierig auszumachen, ob ein Krieg gerecht ist oder nicht. Ich bin davon überzeugt, daß dem Völkerrecht zur Geltung verholfen werden muß und daß überall in der Welt alles zurückgedrängt werden muß, was sich gegen das Völkerrecht stemmt und es gar bricht. Folglich wäre eine internationale Polizei nötig, die in der Lage ist, dem zu begegnen, der das Recht bricht. In diesem Sinn kann man zu der Ansicht gelangen, daß eine Militäraktion am Golf gerechtfertigt ist. Aber ich gehöre zu denen, die einen Krieg an sich für eine so furchtbare Sache halten, daß er durch fast nichts zu rechtfertigen ist.
Glauben Sie, daß wir Europäer, der Westen überhaupt, eine andere Sicht des Krieges haben als die Araber?
Ja, mit Sicherheit. Wir haben keinerlei heilige Vision des Konflikts. Der Zugang ist rational: Wenn man diesen Krieg für gerecht hält, dann deswegen, weil er die Weltordnung verteidigt, eine Ordnung, die auf dem Recht basiert. Dies vorausgeschickt, gab es im Westen viele Menschen, die für den Frieden gebetet haben. Für den Frieden und nicht für den Krieg.
Ist der Konflikt das historische Schicksal der Beziehungen zwischen Okzident und arabischer Welt?
Ich gehöre zu denen, die seit langer Zeit, seit mehr als dreißig Jahren darum kämpfen, daß zwischen Europäern und Arabern Frieden herrschen möge. Ich überzeugt davon, daß genau hierin die Aufgabe der südeuropäischen Länder besteht, Frankreichs, Italiens, Griechenlands und Spaniens. Sie müssen, um es so auszudrücken, zu Mittlern zwischen der hyperindustrialisierten Welt des Atlantik und der arabischen Welt werden, die immer den Eindruck hat, zurückgestoßen worden zu sein.
Gibt es eine Friedenskultur, die einer Kriegskultur entgegensteht?
Ich meine, es gibt in der Gesamtheit unserer kulturellen Welt eine Partei des Friedens, die ihre Wurzeln in der Tradition des Christentums wie auch dem Rationalismus findet. Das ist offensichtlich. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, daß die Demokratie eine Kultur ist, die auf der utopischen Vorstellung gründet, daß die Menschen eine Gesellschaft von Brüdern bilden und schon den Gedanken an Krieg eliminieren können.
Aber es gibt, und zwar nicht nur in Arabien, eine Kultur des Krieges.
In der so widersprüchlichen Natur des Menschen liegen auch aggressive Kräfte. Es ist sehr schwer, in einem Individuum wie auch in einer Gesellschaft die kriegerischen Impulse zu unterdrücken. Und diese Impulse werden von Politikern ausgenutzt, wie wir allzu oft gesehen haben. Der Nazismus zum Beispiel war eine Kultur des Krieges. Aber auch heute existieren Machtstreben und Aggression. Immerhin reden wir über den Krieg.
Warum ist es den Pazifisten niemals gelungen, den Krieg zu verhindern?
Diese Frage ist schwer zu beantworten. In der Wirklichkeit sehen wir die Konflikte, die trotz der pazifistischen Bewegungen ausbrechen. Wir sehen aber nicht, welche Konflikte eben wegen jener Bestrebungen nicht ausgebrochen sind. Und dann gibt es da noch eine mächtige Bremse für den Krieg: Die Angst. Vor allem die Angst vor den totalen Waffen. Das war beispielsweise in der Kubakrise ganz offensichtlich.
Die Angst war in den vergangenen Jahrhunderten keine Bremse für den Krieg?
In den primitiven Gesellschaften, in der mittelalterlichen Gesellschaft ist der Krieg ein Dauerzustand. Im 11.Jahrhundert bestiegen die Ritter jedes Frühjahr — vorausgesetzt, es war nicht zu regnerisch — ihre Pferde und zogen in den Krieg. Das war wie ein Sport. Und vielleicht ist für einige unsere Zeitgenossen der Krieg ein Sport geblieben. Man muß nur hinschauen. Man beruft sich auf Werte der „Ritterlichkeit“ wie die Ehre, den Mut, das Opfer, die militärische Tüchtigkeit. Das sei auch erwähnt. Aber das heute vorherrschende Gefühl ist die Angst. Im Mittelalter war das anders. Zumindest war der Krieg weniger zerstörerisch für die Bevölkerung, fast schien er ein natürliches Element in den Sozialbeziehungen.
Bedeutete der Erste Weltkrieg einen Wendepunkt?
Der Wendepunkt liegt vielleicht ein Jahrhundert früher. Die ersten Zeugnisse einer regelrechten Ablehnung der Schlächtereien eines Krieges gehen auf die Schlacht von Solferino zurück. Auch weil die technischen Mittel immer mehr perfektioniert wurden. Was die Angst vor dem Krieg speist, das ist die Effizienz der Kriegstechnologie. An einem bestimmten Punkt verurteilte die Kirche die Armbrust und versuchte, ihren Einsatz zu verhindern. Es handelte sich damals um eine neue Waffe, die Panzer durchschlug und Menschen auch aus der Ferne töten konnte. Das änderte die Spielregeln, und es machte die „Tüchtigkeit“ der Ritter überflüssig. Es handelte sich um eine unmoralische Waffe — wie heute die Atombombe oder die chemischen Waffen.
Sie haben auch für das Fernsehen gearbeitet. Welches Gewicht hat das Fernsehen in dem Prozeß, der den Krieg „normalisiert“?
Ich habe mir diese Frage selbst immer wieder gestellt. Europa sieht sich das erste Mal einem Krieg in seiner Unmittelbarkeit gegenüber, und es macht den Eindruck, alles sei für das große Schauspiel Krieg arrangiert worden. Es steckt etwas Perverses in der Vorstellung, die Leute sitzen im Sessel vor dem Fernseher und wohnen der Apokalypse bei. Gleichzeitig denke ich, es gibt Momente, die den pazifistischen Bewegungen Auftrieb geben. Durch die Medien nehmen die Leute auch an den Entscheidungen teil. Sie haben viel mehr Gewicht als 1914 oder 1939.
Eine vielleicht eher philosophische als historische Frage: Halten Sie eine Welt ohne Krieg für möglich?
Zuerst gebe ich Ihnen eine Antwort als Historiker. Und der Historiker ist ein Gegner der Futurologie, er weigert sich, Hypothesen über die Zukunft aufzustellen — schon allein deshalb, weil sich alle Vorhersagen als falsch erwiesen. Trotzdem gibt es die Idee einer vollkommenen Gesellschaft, einer Gesellschaft ohne Konflikte, ohne Krieg, ohne Klassenkampf. Das ist eine messianische Idee, die die Menschheit schon immer begeistert hat. Ist eine Welt ohne Krieg möglich? Ich will daran glauben. Vielleicht bin ich naiv. Aber wenn es eine Schlacht gibt, die man schlagen muß, dann die, eine so verabscheuungswürdige Sache wie den Krieg auszulöschen und dem Völkerrecht zum Sieg zu verhelfen. Und — um zurückzukehren zum Krieg am Golf — er wird paradoxerweise durch die Vorstellung gerechtfertigt, dieses Recht wiederherzustellen, noch weit schlimmere Kriege zu verhindern und dem Prinzip zum Triumph zu verhelfen, das da lautet: „Es ist verboten, Krieg zu führen.“
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