: Nicht die Fortsetzung einer Politik, sondern das Eingeständnis ihres Scheiterns
■ Reiner Steinweg: Ist Bushs frommer Zynismus "aufgeklärt"?
Zu Frage 1)
Bei einem Schadensvergleich müssen vier Bedingungen erfüllt sein:
a)Das geringe Maß an Zerstörung muß eindeutig, die Differenz zwischen dem größeren und dem kleineren Schaden groß sein.
b)Die Wahrscheinlichkeit, daß der angenommene größere Schaden auch tatsächlich eintritt, wenn die Maßnahmen des geringeren Übels nicht ergriffen werden, muß hoch sein.
c)Es muß garantiert sein, daß die Maßnahmen, die den größeren Schaden verhüten sollen, ihn nicht erst produzieren.
d)Es muß absolut sicher sein, daß alle nicht gewalttätigen Mittel zur Verhinderung des größeren Schadens ausgeschöpft worden sind.
Keine der vier Bedingungen ist im Golfkrieg erfüllt.
Zua):Ob die Zahl der Getöteten und Verstümmelten sowie die Sachschäden, die drei Monate High-Tech- Krieg im Irak, bei den Alliierten und in Israel hervorbringen werden, soviel niedriger sein werden als bei dem hypothetischen Falle eines (späteren) ABC-Angriffs auf Israel, kann bezweifelt werden. (Kuwait, das ja befreit werden soll, „ist eine Kraterlandschaft“, ließen alliierte Bomberpiloten bereits am 6. Februar stolz verlauten). Die Sprengwirkung der alliierten Bomben erreicht täglich den Umfang der beiden Bomben auf Hiroschima und Nagasaki. Aber selbst wenn es wegen der stärkeren Sofortwirkung auf die Zivilbevölkerung und wegen der atomaren Langzeitfolgen Eindeutigkeit geben sollte: wenn man zu den „konventionell“ Getöteten die Millionen hinzurechnet, die jetzt weltweit verhungern müssen, weil die vorhandenen Mittel auf die Zerstörung statt auf den Aufbau tragfähiger Strukturen in der Dritten Welt konzentriert werden, ist eine eindeutige Differenz nicht gegeben.
Zur Zahl der Toten müssen aber auch die Schäden in anderen Dimensionen hinzugerechnet werden: Noch ist nicht abzusehen, welche weiteren ökologischen Waffen im Verlauf dieses Krieges eingesetzt werden. Aber bereits die eingetretenen Schäden sind riesig und weltweit. Hat schon jemand ausgerechnet, um wieviel Prozent die Belastung der Atmosphäre durch die über 60.000 bisher geflogenen Kampfeinsätze steigt? Das bewußt eingegangene Risiko, daß durch eine Bombardierung von B-Waffen-Fabriken im Irak langlebige giftige Mikroorganismen freigesetzt werden (nach Expertenaussagen ebenfalls mit weltweiten Folgen), kommt dem bewußten Einsatz solcher Massenvernichtungsmittel gleich.
Schließlich sind auch die politischen Folgeschäden mitzurechnen, von denen hier nur die durch diesen Krieg stark stimulierte Enthemmung beim Einsatz von Gewalt erwähnt werden soll, wie sie bereits in kleinerem Maßstab im Libanon zu beobachten war. Die von den Massen als weitere Demütigung der arabischen Nation empfundene Niederwerfung des Iraks wird zum Einsatz immer schrecklicherer Mittel gegen Israel führen. Die Hoffnung, den Arabern insgesamt alle diese Mittel ein für allemal aus der Hand schlagen zu können, ist illusionär.
Zub)Daß der Irak seine ABC-Waffen irgendwann einmal gegen Israel einsetzen könnte, wird in den UN- Resolutionen nicht erwähnt. Diese hypothetische Möglichkeit war folglich kein Kriegsgrund, zumindest kein rechtmäßiger. Eineakute Gefahr dieser Art bestand vor der Androhung, Kuwait mit Gewalt zu befreien, nicht. Im übrigen gilt hier gleiches Recht für alle: Die israelische Atombombe ist aus arabischer Sicht genauso bedrohlich wie die irakische aus israelischer oder die pakistanische aus indischer Sicht. Niemand hat je in der Existenz der südafrikanischen Atombombe einen Anlaß für militärisches Eingreifen am Kap gesehen.
Zuc)Erst der Krieg hat den Einsatz irakischer Massenvernichtungsmittel wahrscheinlich gemacht. Das politische Signal der absichtlichen Meeresverseuchung mit Öl heißt doch: „Wenn wir in die Enge gedrängt werden, müßt Ihr mit allem rechnen.“ Der Irak folgt damit der Eskalationslogik, wie sie aus unzähligen Szenarien bekannt ist, die früher für den großen Ost-West-Schlagabtausch entworfen worden sind. Das war vorhersehbar.
Das zusätzliche Argument, daß man die Entwicklung von irakischen A-Waffen durch den Krieg vorbeugend habe verhindern müssen, ist doppelt fragwürdig: Die führenden Experten gehen davon aus, daß der Irak erst in fünf Jahren in der Lage gewesen wäre, A-Waffen herzustellen; die Minderheit unter ihnen, die es für möglich hält, daß der Irak über primitive A-Waffen bereits verfügt, betont, daß diese wegen ihres größeren Gewichts von Scud-Raketen nicht transportiert werden können. In beiden Fällen wäre Israel auf absehbare Zeit atomar nicht gefährdet. Es bleibt die Bedrohung durch radiologische Waffen (Verstreuung radioaktiven Materials durch Scud-Raketen ohne Atomexplosion). Diese Waffe würde aber unterschiedslos Israelis wie Palästinenser treffen, ihr Einsatz ist nur als absoluter Verzweiflungsakt vorstellbar. Als Mittel zur Befreiung Palästinas ist er nicht geeignet.
Zud):Der Irak hat im Unterschied zu Syrien eine forcierte, ölfinanzierte Industrialisierungspolitik betrieben und die Landwirtschaft eher vernachlässigt. Er ist bei den Ersatzteilen zu fast 100 Prozent vom Import abhängig. Die Ökonomie insgesamt beruht zu 80 Prozent auf der Ölausfuhr. Experten haben schon vor Jahren vorhergesagt, daß Einnahmen aus dem Ölexport zurückgehen sollten, weil dann der aufgeblähte Staats- und Militärapparat nicht mehr finanziert, Loyalität gegenüber dem Regime nicht mehr hergestellt werden kann. Es war bekannt, daß der Irak seit über einem Jahrzehnt eine Politik der einjährigen Bevorratung betreibt. So sicher wie die Blockade nach fünf Monaten noch nicht greifen konnte, so sicher hätte sie, selbst bei nur 80prozentiger Effizienz, nach etwa 15 Monaten gegriffen. Davon, daß die nichtkriegerischen Mittel am 15. Januar ausgeschöpft waren, kann also überhaupt keine Rede sein. Die große Geduld, die die „Völkerfamilie“ in anderen Fällen beschlossener UN-Sanktionen hatte — etwa im Falle Südafrikas, das über Jahrzehnte ein sehr viel größeres Gebiet als Kuwait (Namibia) völkerrechswidrig und unter zahllosen Menschenrechtsverletzungen annektiert hatte —, steht im krassen Mißverhältnis zu der Ungeduld gegenüber den Sanktionswirkungen im Irak.
Auch die politisch-diplomatischen Mittel sind nicht ausgeschöpft worden (Frankreichs Vorschläge, siehe Tugendhat). Die Chancen zur Verständigung, die der Irak mit der Freilassung der Geiseln geboten hat, sind dem politischen Ziel geopfert worden, eine Verbindung zwischen der Kuwaitfrage und der Frage der durch Israel besetzten Gebiete zu verhindern. Dabei wissen alle Beteiligten genau, daß die Existenz Israels langfristig nicht durch Waffen und noch so „effiziente“ Unterdrückung, sondern nur durch friedlichen Ausgleich mit seinen Nachbarn gesichert werden kann. Von diesem Ziel wird Israel nach dem Krieg weiter entfernt sein denn je.
Aus all diesen Gründen ist eine Bewertung dieses Kriegs als „gerecht“ ausgeschlossen. Damit ist zwar nicht bewiesen, aber wahrscheinlicher gemacht, daß Großkriege unter Einsatz von High- Tech-Waffen prinzipiell nicht gerecht sein können.
Zu Frage 2)
Ich finde die Seite, auf der ich stehe, gar nicht „bequem“, sondern sehr anstrengend: zeit- und kräfteraubend. Bequem machen es sich diejenigen, die den Mächtigen applaudieren, was immer sie gerade tun.
Zu Frage 3)
Tugendhat hat über das Verhältnis von Aufklärung und Fundamentalismus im Islam alles Nötige gesagt. Wenn Präsident Bush für die zivilen Opfer seiner Bombengeschwader „betet“ bzw. wenn er es für politisch geboten hält, solch frommen Zynismus öffentlich auszustellen, dann zeugt das nicht gerade von einem „aufgeklärten“ und säkularen Zustand der amerikanischen Gesellschaft. Dieser Krieg ist nicht die Fortsetzung einer Politik, sondern das Eingeständnis ihres Scheiterns.
Wenn es das in der Frage unterstellte eurozentristische Motiv gibt: Will Euroamerika sich tatsächlich anschicken, alle Regionen der Welt, die „nicht säkularisiert, nicht demokratisch organisiert sind“, durch Krieg zu zivilisieren? Das wäre erstens unmöglich und zweitens das sichere Ende der Zivilisation. Es hätte mit den philosophischen Impulsen der Aufklärung (Kant!) nicht das Geringste zu tun. Ich bestreite, daß solche Motive dem Krieg zugrunde liegen, sie werden allenfalls nachträglich aufgesetzt. Etwas anderes wäre es, von einer unbewußten kollektiven Dynamik zu sprechen. In diesem Fall wären aber auch noch andere, mindestens ebenso starke Faktoren zu nennen.
Zu Frage 4)
Die UNO ist nicht als Weltregierung konzipiert. Da bedürfte es anderer Regeln, zum Beispiel eines durch freie Wahlen legitimierten Weltparlaments. Die UNO könnte ein Instrument zur Durchsetzung von Völkerrecht und Menschenrechten nur dann werden, wenn auch die Großmächte sich den gesetzten Prinzipien unterwerfen würden. Die USA können dazu von der UNO nicht gezwungen werden. Wer fällt ihnen bei der nächsten Panamaaktion in den Arm? Die USA haben sich noch vor kurzem geweigert, die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag anzuerkennen. Eine Weltregierung ist undenkbar.
Die UNO hat dadurch, daß sie völlig unnötig einen Großkrieg zugelassen hat, zumindest in der arabischen Welt an politischer Autorität stark verloren. Sie wird weltweit noch mehr verlieren, wenn im nächsten und übernächsten Fall völkerrechtswidrigen Verhaltens nichts geschieht — weil die ökonomischen Kräfte erschöpft sind (so schnell kann ein weiterer Krieg dieses Ausmaßes nicht geführt werden); weil eine der Großmächte durch einen militärischen Eingriff ihre Interessen verletzt sähe; weil ein Eingriff aufgrund mangelnden ökonomischen Interesses am Konflikt nicht opportun erscheint oder weil die Aggressionpolitisch ins Konzept paßt (wie im Fall des irakischen Angriffs auf den Iran). Es hat seit 1945 zahlreiche Fälle dieser Art gegeben, und es wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit noch vor der Jahrtausendwende wieder geben. Meine These ist also, daß der Krieg die UNO, die durch den einstimmigen Beschluß der Wirtschaftsblockade im August sehr gestärkt worden war, durch die verhängnisvolle Politik des Ultimatums wieder erheblich geschwächt hat. Die ersten Anzeichen dafür sind bereits in der unterschiedlichen Beurteilung der iranischen Friedensinitiative durch den Generalsekretär und die USA sichtbar.
Wünschenswert ist eine starke UNO, die mit hinreichenden Mitteln ausgestattet ist, um Völkerrechtsverletzungen auch seitens der Großmächte zu verfolgen und unabhängig von zufälligen Kriegskoalitionen (darum handelt es sich im Golf) zu agieren. Die Stärkung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit wäre dafür unabdingbar, ebenso wie eine Selbstbindung des Sicherheitsrates, auf militärische Zwangsgewalt zu verzichten. Die Instrumente ökonomischer Zwangsgewalt müßten dagegen verfeinert und verstärkt werden. Daß diese Mittel durchaus wirksam sein können, zeigt sich an der sowjetischen Reaktion auf die Drohung der EG, im Falle fortgesetzter militärischer Aktionen im Baltikum die Kooperation einzustellen.
Zu Frage 5)
Es gibt zweifellos eine besondere Verantwortung der Deutschen, Österreicher und Japaner für den Weltfrieden. Aber diese Verantwortung kann vor dem Hintergrund unserer Geschichte nicht durch „Krieg für Frieden“ wahrgenommen werden. Sie wird von denen wahrgenommen, die sich auf die Seite der Kriegsopfer jeder Nationalität stellen und ihnen helfen. Sie muß wahrgenommen werden durch doppelte und dreifache Anstrengung, in politischen Konflikten nach nichtkriegerischen Mitteln zu suchen. Hier hat die auf die Probleme der deutschen Einheit fixierte Bundesregierung versagt, nicht nur, indem sie die Rüstungsexportkontrolle lax gehandhabt hat — gegen alle seit mehr als einem Jahrzehnt von der Friedensforschung und der Kampagne gegen Rüstungsexport erhobenen Warnungen.
Zu Frage 6)
Die Bundesrepublik ist weder technisch noch militärisch noch vom Grundgesetz her in der Lage, eine Sicherheitsgarantie für Israel zu übernehmen. Sie hat aber zweifellos eine ganz besondere Verantwortung für die Menschen in Israel. Sie hätte diese Verantwortung längst wahrnehmen können, indem sie die Chemiewaffenlieferungen an den Irak unterbunden hätte (daß heute wieder einmal niemand gewußt haben will, daß deutsche Firmen an dieser Produktion beteiligt waren, ist völlig unglaubwürdig). Sie hätte schon längst jedwede Kooperation auf ökonomischem und waffentechnischem Gebiet mit arabischen Staaten von der verbindlichen Anerkennung des Existenzrechts Israels abhängig machen können. Sie hätte darauf dringen müssen, daß Israel sich im Gegenzug entsprechend den UNO-Resolutionen verhält.
Der beste Freundschaftsdienst, den Deutsche und Österreicher heute den Israelis erweisen können, ist, sie davon zu überzeugen, daß eine tiefgehende Anerkennung des Staates Israel auf Dauer nur durch eine volle Anerkennung des Lebens- und Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser zu haben ist. Diese politische Haltung sollte mit humanitärer Hilfe jeder Art, aber nicht mit Waffen untermauert werden. (Die schleunige Entwicklung und kostenlose Lieferung blausäurebeständiger Gasmasken und ähnlicher Schutzmittel für alle Bewohner Israels sollte der Rüstungsexportindustrie als Wiedergutmachung auferlegt werden.) Um friedensstiftend zu wirken, müßte diese Hilfe auch die Araber in Israel und in den besetzten Gebieten einschließen. Wir Deutsche und Österreicher haben gewiß kein Recht, den Israelis moralische Vorhaltungen zu machen, dennoch gilt: Wahre Freundschaft erweist sich nicht durch blinde Nibelungentreue (eine alte und schon 1914 verhängnisvolle deutsche Untugend), sondern dadurch, daß man einem Freund die Wahrheit sagt, auch wenn sie schmerzt.
Der Autor ist tätig beim Institut für Friedensforschung in Linz. Zuletzt veröffentlichte er „Militärkonflikte in der 3. Welt“ (Hrsg.) bei der Edition Suhrkamp.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen