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Der häretische Maulwurf

■ “Wieviel Bildung braucht der Mensch?“ / Ivan Illich mit Scherf im Rathaus

Eine fand den Weltbürger aus Wien einfach „elitär“. Ein anderer Bürger der Freien Hansestadt, in die eichengeschnitzte Festlichkeit der Rathaushalle zum „Dialog“ geladen, hatte den Gast dreimal das Wort „intellektuell“ aussprechen gehört. Das hatte ebenso seinen Verdacht erregt wie, daß sich dieser Ivan Illich sehr „anders ausgedrückt“ habe, „als in Bremen üblich“.

Und Illich, langsam ermüdlicher Maulwurf unter unseren nicht einstürzenden Neubaubürokratien für Gesundheit, für Soziales und für Bildung, Illich also saß tief unten unter den Koggen, die an den Renaissance-Deckenbalken entlangsegeln, und neben ihm der bürgerumarmende Bildungssenator Scherf.

Illich kam immer wieder auf diesen Raum zurück. Dieses Rathaus, von dem er beim Kommen gedacht habe: „So sollte ein Rathaus sein.“ Ob aber die Bürger, die es vor 500 Jahren bauten, davon ausgegangen seien, daß der Mensch bedürftig der Erziehung sei? Womit Illich mit der üblichen Erziehung einen staatlich verwalteten Ritus meint, ein „katholisches Ritual, so katholisch, wie noch nie eines war“; katholisch in dem Sinne, daß es eine weltumfassende Gemeinschaft der Erziehungsinhaber stiftet und unter ihr eine hierarchisch degradierte Masse, die durch erfahrungslosgelöste Erzieher an Bildung eher gehindert wird.

Immer wieder kam Illich, dieser Spezialist für Schaffung von Gemeinschaft durch Ritus, auf den Raum des Rathaussaals zurück: Hier könnte doch etwas entstehen. Und wenig später verriet er auch, auf welch andere Gemeinschaft er hier hoffte: die Agora, den Marktplatz der fragenden, streitenden und entscheidenden BürgerInnen.

Er bekam sie, die Agora, und stand ziemlich allein darauf. Die FDP-Häuptlinge Jäger und Schönfeldt gingen vor Stundenfrist, der Bundes-Bildungsminister Ortleb (FDP), der das 13. Schuljahr abschaffen möchte (was ein thematischer Anlaß dieses Bürgerdialogs war), war wegen Schneetreibens unabkömmlich. Auch etliche Zuhörer bröckelten zeitig weg.

Illichs Argumente für „so wenig Schule wie möglich“ sind seit mehr als 20 Jahren nachzulesen. Sie sind so richtig wie damals. Aber eine merkwürdige Mattigkeit liegt über ihnen und ihrem Schöpfer, der vergeblich versuchte, ihnen seine vogelflinke, erzählerisch-theoretische Lebendigkeit einzuhauchen.

Die merkwürdige Mattigkeit hängt mit der Schulwirklichkeit zusammen, mit der unerbittlichen Zähigkeit des Seins. Und die Schulwirklichkeit wiederum mit dem idealisch-ideologisch versteiften Rückgrat ihrer Vertreter. Dank Henning Scherf - an diesem Abend so rituell bürgernah wie immer, so erfreulich konfrontativ wie selten — wurde deutlich: Die (sozialdemokratische) Schul- Welt als Wille und Vorstellung ist eine vernagelte Welt, abgedichtet mit den Scheuklappen des Quasi- Nachdenkens und des Quasi-Dialogs.

Illich fragt, was für eine Art Lesen man in Jahrzehnten Schulbesuch lernt, wo man drei Stunden zum Lesenlernen braucht, wenn man motiviert ist - oder elf Monate, wenn man es eingepaukt kriegt. Scherf antwortet mit der Schule als dialektischer Idee: Sie kann dem Faschismus die Grundlage liefern (Scherfs fixe These: es war das Bildungsbürgertum!) — sie kann aber auch als „Gegenmacht“ zur „Emanzipation“ genutzt werden.

Illich fragt, warum die Eltern sich nicht als Vorleser, sondern als Erzieher verstehen. Scherf kontert: Weil sie als Vorleser versagt haben, weil das Bildungsbürgertum die SS-Elite bestückt hat und weil die Schule die weniger finstere Alternative zur Familie ist, in der 95 Prozent der Gewalttaten gegen Mädchen passieren. Beifall der Agora für den Senator zum wiederholten Mal.

Es war ein lehrreicher Abend, wie gesagt. Der Bildungssenator im Einklang mit der anti-elitären Publikumsmehrheit; Henning Scherf hat die Schule als potentiell antifaschistischen Gegenraum unverrückbar im Gehirn. Und hat die Ohren fest vernagelt für Fragen, was da tatsächlich wer lernt und wie lehrt. Und hat geläufig auf der Zunge: den Dank für das „tiefe Nachdenken“, zu dem Ivan Illich wie immer angestoßen hat. Das ist, mit aufgetünchter Biegsamkeit, die eisenweiche Wand, vor der jegliche Gedanken an eine Reform der Schule matt werden und zäh. Uta Stolle

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