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Grundwunderlich

■ Wedekinds „Marquis von Keith“ im Großen Haus in Freiburg

Wer das Stück gelesen hat, weiß, es steckt voller Absturzmöglichkeiten. „Obschon ich deine ganze Lebensauffassung aus tiefster Seele verabscheue, vertraue ich dir, überlasse ich mich deiner geistigen Führung“, sagt zu Anfang Scholz, das heißt Graf von Trautenau, zu seinem Jugendfreund Marquis von Keith, das heißt einem Bürgerlichen.

Schauplatz ist München, 1899. Der eine stapelt tief, der andere hoch. Beide ketten sich versuchsweise aneinander, ein seltsam verkehrtes Faust-Mephisto-Bruderpaar. Was ist das für eine künstliche Konstruktion, für ein absurdes Experiment? Und wie fiebrig überspannt überhaupt alles in diesem Stück! Schlimmer als Dostojewskij! Thomas Mann fiel dazu nur ein passendes Wort ein: „Grundwunderlich.“

Die beiden Frauen Molly und Anna, wie leicht wären sie zu denunzieren, zu klischieren! Aber dann diese traumwandlerische Sicherheit einen ganzen Abend lang im Freiburger Großen Haus! Nichts Forciertes, Karikiertes, sondern runde volle Menschen, anrührend und komisch, gequält von ihren Phantasmen in ihrer tatsächlich grauenvoll überspannten Wirklichkeit, die geradewegs auf den Weltkrieg zuschlittert. Der ganze Reichtum der inszenatorischen Komposition läßt sich hier nur andeuten. Das Bühnenbild: Beim Eintritt sehen wir auf einen großen Schleiervorhang mit Rudolf Hennebergs Allegorie der Jagd nach dem Glück. Da jagt ein Keith der verlockend auf der Weltkugel prangenden Fortuna Anna nach, den Tod im Nacken und unter sich eine zertretene Molly. Allerspätester Mahler (X. Sinfonie) erklingt. Dann plötzlich leuchtet es, wie durchs Fernglas zu sehen, weit hinter dem Schleier rotbunt auf, und Menschenstimmen erheben sich. Ein kleines Vorspiel auf dem Theater mit dem gefallenen Engel Helena Anna, mit Faust Scholz, Mephisto Keith und Gott Casimir vor den geschlossenen Türen von Hieronymus Boschs Garten der Lüste beginnt. Genau diesen Garten der Lüste en miniature wird später Scholz, der sich bei Keith zum „Genußmenschen“ ausbilden will, unter dessen Bildern ratlos betrachten und sagen: „Ich verstehe halt nichts von Kunst.“

Die Schaupsieler: 20 volle Individualitäten (dazu ein gefallener Engel und acht Can-Can-Tänzerinnen) haben an diesem Abend Premiere. Keith hinkt. Es gibt Augenblicke, da stampft er mit dem Fuß auf, etwa wenn er dem jungen Hermann Casimir die Leviten unserer Gesellschaft liest: „Der Mensch wird abgerichtet, oder er wird hingerichtet!“ In diesen Momenten offenbart sich der ganze blindwütige Zwang, der verzweifelte Krampf und auch das ganze Elend dieses Aufsteigers. Keith hat „die groben roten Hände eines Clowns“, die er, bevor er empfängt, hastig in weiße Handschuhe steckt. Aber wenn er sie, nur widerstrebend, Molly zum Küssen hergibt, scheint Blut an ihnen zu kleben.

Die voll erblühte Anna, verwitwete Gräfin Werdenfels, gewesene Verkäuferin Huber, ist eine Frau mit Zielen, ein Luder mit Klarblick. Und doch reicht ein Wort, um dieser Figur eine reife, emotionale Tiefenschärfe zu geben: „Ich habe seit einiger Zeit vor lauter Lebenslust manchmal Selbstmordgedanken.“

Das zierlich schmale Mädchen Molly hat überhaupt nichts Hausbackenes oder Liebesdienerisches, sondern das hellwache Leid und den starrköpfigen Trotz von einer, die mit ihrer Liebe an den Falschen geriet, einmal und für immer. Wenn Molly zum letzten Mal Keith aufsucht, flehend vor ihm liegt und er sich leise weinend über sie beugt, dann ist es im ganzen Großen Haus plötzlich so atemlos still, daß man das Mitleiden mit Händen greifen kann. Und dann wieder dieser Rausch, die blinden Aktivitäten, um sich selbst und die miserable Wirklichkeit nicht zu sehen. Molly ist der lebendige Spiegel Keiths elender Realität. Sie weiß, er wird nur benutzt: ein Spielball Mächtigerer. Deshalb will Keith sie nicht mehr sehen. Und wenn er zuletzt, alleingelassen von allen, auf die Rückkehr von Molly horcht, dem Joker, der ihm noch jedesmal wieder auf die Füße half, klingt aus dem Hintergrund leise Wagners Rheingold herauf: „Isargold“ sozusagen, unter dem Molly jetzt begraben liegt.

Nur einen schwachen Moment gibt es an diesem durch und durch guten Abend. Das Kopf-an-Kopf-Duett von Keith und Scholz zur Musik von „Einstürzende Neubauten“ ist, wie gut auch der Text (Haus der Lügen) sein mag, unnötig. Man hört den Personen gerade so zu, daß es einfach stört. Sonst aber — traumwandlerische Sicherheit.

Der Regisseur Henning Rühle, geboren 1944, gehört er zu den Stillen im Lande. Und man fragt sich, wo hat er eigentlich die ganze Zeit gesteckt? Der gelernte Schauspieler war Ende der Roaring Sixties drei Jahre Assistent bei Zadek in Bremen. Ein Jahr spielte und arbeitete er mit dem „Living Theatre“, ging dann ans „LaMaMa“-Theater nach New York, zog mit einer freien Gruppe durch Amerika, kehrte nach Deutschland zurück und dachte sich, das geht hier ja alles gar nicht. Seither hielt er sich eher im Hintergrund, mal in Düsseldorf bei Peter Löscher, mal in Nürnberg, zuletzt als Oberspielleiter in Heidelberg und in Göttingen auf. Anschließend gönnte er sich ein Jahr Theaterpause. Sie ist ihm nicht schlecht bekommen. Das Freiburger Publikum bekundete es lauthals. Es hatte gespürt, was es da vor sich sah, nämlich ein Talent, ein grundwunderliches. Marie-Luise Bott

Frank Wedekind: Der Marquis von Keith. Regie: Henning Rühle. Bühne: Gerd Friedrich. Mit Manfred Meihöfer, Michael Stiller, Christiane Lemm, Helga Pedross. Großes Haus, Theater Freiburg.

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