Zeit der Kirschen

■ Das seltene Gefühl von Freiheit und Glück / Eine Geschichte von Henry Förster

Als ich vierzehn Jahre alt war, lebte ich in einem hessischen Erziehungsheim. Ein paar Monate vorher war ich aus meiner Geburtsstadt Berlin und der mir vertrauten Umgebung herausgerissen worden, weil es zuhause und in der Schule Probleme gab. Ich sollte in diesem hessischen Heim „umerzogen“ werden.

Ich fühlte mich da einsam und unglücklich, veraten und verkauft. Nach einiger Zeit freundete ich mich jedoch mit einigen gleichaltrigen Insassen an. Einer davon hieß Werner. Er kam aus Kaiserslautern, wie er mir erzählte, und vertraute mir an, daß er sobadl wie möglich aus dem Heim flüchten wollte. Er bot mir an, wenn ich auch einmal auf Trebe gehen würde, daß ich dann zu ihm nach Kaiserslautern kommen sollte, und beschrieb mir die Stadt in den schillernsten Farben. Eines Tages war er wirklich verschwunden, und ich hatte versäumt, ihn nach seiner genauen Anschrift zu fragen. Wo liegt Kaiserslautern überhaupt? Ich kannte mich in Westdeutschland überhaupt nicht aus.

Die Zustände in dem Heim waren mir von Anfang an unerträglich. Aber ich war in einer geschlossenen Abteilung und außerdem weit weg von Berlin, wo ich Freunde hatte, wo ich gewußt hätte, wo ich mich verstecken könnte, wenn ich mal abhauen wollte. Aber dieses Heim lag für mich am Arsch der Welt. Für mich war Westdeutschland wie Ausland. Dabei lag das Heim zwischen Frankfurt und Darmstadt, in einem Kaff, das sich bezeichnenderweise Wixhausen nannte. Das Heim selbst hieß „Aumühle“. Au, Au, Au — nein, mein Unglück läßt sich auch jetzt nicht beschreiben: Wixmühle! Für mich war das Kaff so fern von Berlin wie der Nordpol.

Und dann, eines Tages sollte ich das Auto des Heimleiters waschen. Welch eine Ehre! Die Gittertore öffneten sich für mich. Ich durfte mich zum ersten Mal außerhalb dieses Kinderknastes unbeaufsichtigt bewegen. Oder wurde ich vielleicht doch heimlich aus irgendeinem Fenster beobachtet? Egal, ich freute mich darüber, daß man mich das Auto des Heimleiter waschen ließ. Ein Hauch von Freiheit — das Auto befand sich ungefähr 50 Meter vom Heim entfernt! Ich wusch das Auto, blinzelte jedoch immer wieder mißtrauisch zu den Fenstern der Gebäude, weil ich mich irgendwie beobachtet fühlte, konnte jedoch niemand hinter den Vorhängen sehen.

Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, fällt mir auf, wie bescheiden ich damals war. Wie sehr freute ich mich doch über diesen Hauch von Freiheit.

In der Folgezeit durfte ich dann öfters das Auto des Heimleiters waschen. Manchmal machte ich kleine Ausflüge nach Wixhausen, kam jedoch jedesmal angeödet und enttäuscht wieder zurück. Wonach suchte ich eigentlich? Es gab in diesem Heim keine Mädchen. Ich hätte gern eine Freundin gehabt. Aber ich entdeckte auch in Wixhausen kein Mädchen, während ich meine kurzen Ausflüge machte. Es war mir verboten, mich außerhalb der Sichtweite des Heimes zu entfernen. Trotzdem riskierte ich jedesmal, daß meine Ausflüge entdeckt werden könnten. So leicht setzte ich das bißchen Freiheit, das mir damals so viel bedeutete, aufs Spiel. Aber niemand machte mir deswegen Schwierigkeiten. Und dann, an einem Wochenende, bekam ich sogar ganz offiziell einige Stunden Ausgang. Am darauffolgenden Wochenende durfte ich sogar schon am Samstag und am Sonntag jeweils für ein paar Stunden raus: Der Hauch von Freiheit wurde langsam zum richtigen Wind, der mir um die Nase wehte. Ich bekam fünf Mark Taschengeld, wofür ich mir meistens Zigaretten kaufte, weil es für's Kino und für Zigaretten nicht gereicht hätte. Und dann, eines Tages, haute ich ab!

Ich stellte mich einfach an die Landstraße, hielt den Daumen raus und trampte los. Bloß erst mal weg von diesem ätzenden Laden, weit weg, ohne Papiere, mit fünf Mark in der Tasche!

Ich wußte nicht genau, wo Kaiserslautern liegt, irgendwo dort mußte ja mein Freund sein, der immer noch auf Trebe war. Dort wollte ich erstmal hin. Ich würde ihn schon irgendwie finden. Und dann wollte ich ihn dazu überreden, daß wir zusammen eine Weltreise machen. Wie das alles gehen sollte, darüber machte ich mir erst mal keine Gedanken.

In meiner Hosentasche hatte ich einen kleinen Taschenkalender, in dem sich eine Miniatur-Landkarte befand, die ich nun unterwegs fortwährend studierte. Manchmal fühlte ich mein Herz aufgeregt klopfen. Die Abenteuerlust hatte mich gepackt. Dreimal mußte ich umsteigen, weil die Fahrer jeweils nur kurze Strecken auf meinem Weg fuhren. Ich wartete lange auf die nächste Mitfahrgelegenheit, einmal sogar drei Stunden. Da spürte ich plötzlich noch etwas anderes: Hunger!

Besorgt dachte ich an meine fünf Mark, die ich nicht unbedingt jetzt schon für Essen ausgeben wollte, denn ich könnte sie auf der kommenden Weltreise sicherlich irgendwann anderweitig brauchen. Dem Fahrer des Wagens, in dem ich gerade saß, wollte ich meine Situation nicht unbedingt auf die Nase binden. Er hätte mir vielleicht eine Stulle spendiert, vielleicht sogar etwas Geld geschenkt, aber irgendetwas hielt mich davon ab, meinen großen Aufbruch mit Betteln zu beginnen.

Wo befand ich mich überhaupt? Irgendwo am Straßenrand rauschte ein Schild vorbei, auf dem, glaube ich, stand: Heidelberg, noch soundsoviele Kilometer. Wo lag Heidelberg? Ich kramte gerade meinen Taschenkalender aus meiner Hosentasche um nachzusehen, als mein Blick auf die Bäume fiel, die am Straßenrand vorbeihuschten.

Täuschte ich mich, oder wuchsen da tatsächlich Kirschen?! Ich starrte aus dem Fenster. Herrjeh, überall Kirschbäume! Es mußte eine gewaltige Kirschbaumplantage sein. Ich bat den Fahrer so heftig, mich hier abzusetzen, daß er vor Schreck fast die Kontrolle über das Steuer verloren hätte. Aber er stoppte, guckte mich noch verwundert an und rief mir hinterher, daß die Stelle zum Weitertrampen ungünstig wäre. Dann fuhr er weiter, weil er wohl verstanden hatte, was ich hier wollte.

Ich tigerte zwischen den Kirschbäumen herum, pflückte mir hier und dort ganze Büschel voller herrlicher, saftiger, roter Kirschen ab, fand eine weiche, mit hohem Gras bewachsene Stelle, legte mich bequem auf den Rücken und schaute in einen blauen, wolkenlosen Sommerhimmel. Die Sonne schien mir ins Gesicht, ich sah Vögel über mir ihre Kreise ziehen und ließ mir eine Kirsche nach der anderen in den Mund fallen. Für diesen Moment, das erste Mal in meinem Leben, fühlte ich mich wirklich frei und glücklich...