: Es gibt keinen Grund für Europhorie
Die weibliche Erwerbslosenquote liegt deutlich über der männlichen/ Daran wird auch der EG-Binnenmarkt nichts ändern Mehr als die Hälfte der Frauen in den fünf neuen Bundesländern ist arbeitslos/ Teilzeitarbeit ist eine weibliche Domäne ■ Aus Berlin Ulrike Helwerth
„Gesucht: unabhängige junge Dame (bis 30 J.) mit Hochschulabschluß, zweisprachig und flexibel für interessante Tätigkeit im Dienstleistungsbereich von internationalen Unternehmen“ — Frauen mit solchen Qualifikationen bietet der 31. Dezember 1992 gute Perspektiven. Dann nämlich fallen in der Europäischen Gemeinschaft die Binnengrenzen, und „der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital“ kann endlich fließen.
Die Wirtschaftprognosen, auf die sich die EG-Mitgliedsstaaten, Ministerrat und Kommission stützen, verheißen dem Binnenmarkt eine blühende Zukunft. So geht der Cecchini-Bericht (1988) davon aus, daß das Bruttosozialprodukt um 4,5 bis 7 Prozent steigen und die Preise um 6 Prozent fallen werden. Zwei Millionen Arbeitsplätze könnten dadurch geschaffen werden. Doch die neue deregulierte Freiheit wird weder Frau Mayer, Ende dreißig, alleinerziehende Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern und Näherin in einer Textilfabrik, noch den meisten der 190 Millionen Frauen in der EG viel bringen — schon gar nicht, wenn sie in strukturschwachen ländlichen Regionen oder in den ostdeutschen FNL leben.
Vage Prognosen
Im Gegenteil: Konzentrationsprozesse in Industrie und Landwirtschaft werden zu Verlagerungen von Produktionsstandorten und/oder zum Abbau von Arbeitsplätzen führen. Prognosen für einzelne Beschäftigungssektoren sind bisher allerdings vage. Spezielle Arbeitsplatzprobleme für Frauen werden vor allem in der Lebensmittel- und Textilbranche durch Rationalisierung und Standortverlagerung erwartet. In Ostdeutschland ist inzwischen die Textilindustrie (Frauenanteil: 66,9 Prozent), wie die meisten anderen Produktionszweige, weitgehend zusammengebrochen. 112.000 Beschäftigte müssen kurzarbeiten. Die Erwerbslosenzahlen hat die Bundesanstalt für Arbeit noch nicht parat.
In einem anderen „typischen“ Frauenbereich, dem Dienstleistungssektor (rund 75 Prozent weibliche Beschäftigte) sind die Aussichten EG-weit freundlicher. Er wird gegenüber 1992 als einigermaßen unempfindlich eingeschätzt und dürfte in den nächsten Jahren sogar weiter wachsen. Diese Entwicklung ist aber nicht unbedingt Folge des Binnenmarktes, sondern nur die Fortsetzung eines Trends.
1988 waren in der EG rund 16 Millionen Personen — also jedeR zehnte ArbeitnehmerIn — erwerbslos. Dabei lag die weibliche Erwerbslosenquote (13,3 Prozent) deutlich über der männlichen (8,3 Prozent). Und beim Vergleich nationaler Zahlen zeigt sich, daß sowohl in Ländern mit Arbeitsplatzzuwachs als auch in Ländern mit stark wachsender Erwerbslosenquote die Schere weiter auseinandergeht. Auch ein Konjunkturaufschwung mit Beschäftigungszunahme beseitigt also das Problem der Frauenerwerbslosigkeit nicht grundsätzlich. Auf der anderen Seite sind Frauen von Arbeitsmarktkrisen überproportional betroffen. Jüngstes Beispiel dafür sind die FNL. Dort kletterte die Erwerbslosenquote Ende Januar auf 8,6 Prozent. Mit den allgemeinen Zahlen ist auch der Anteil der erwerbslosen Frauen im vergangen Jahr kontinuierlich gestiegen und liegt jetzt bei 54,8 Prozent. Hingegen werden weniger als 25 Prozent der neuen Arbeitsplätze an Frauen vermittelt.
In den vergangenen Jahren ist der Zustrom der Frauen auf den Arbeitsmarkt der EG kontinuierlich gewachsen, während sich das Arbeitsvolumen jedoch kaum verändert hat: Immer mehr Frauen arbeiten Teilzeit oder in „prekären“, sprich ungeschützten, Verhältnissen. Im Beschäftigungsbericht der EG-Kommission 1989 heißt es dazu: „In der unmittelbaren Zukunft werden Frauen vermutlich den größten Anteil am Zuwachs der Erwerbsbevölkerung in der Gemeinschaft stellen. Die Dezentralisierung der Produktion, der kleinere Geschäftsrahmen und der Anstieg der Dienstleistungsaktivitäten haben alle dazu beigetragen, daß Arbeitgeber veränderte Anforderungen an Arbeitskräfte stellen. Kürzere Laufzeiten im Produktionsprozeß haben Bedarf an anpassungsfähigen, flexiblen Arbeitskräften geschaffen. Es werden verschiedene Formen atypischer Beschäftigungen gefordert, und oft sind weibliche Arbeitskräfte die Antwort.“
Teilzeitarbeit hat in der EG generell zugenommen. Mit über 80 Prozent im EG-Durchschnitt ist sie eine fast ausschließlich weibliche Domäne. An der Spitze liegt die alte BRD mit über 90 Prozent. Dort arbeitet etwa jede dritte Frau Teilzeit. In der DDR bis zur Wende waren trotz starrem Arbeitszeitregime 27 Prozent der Frauen verkürzt erwerbstätig. Die soziale Absicherung von TeilzeitarbeiterInnen ist in den verschiedenen EG-Ländern sehr verschieden.
Richtlinien fehlen
Doch in den meisten Mitgliedsstaaten bekommen geringfügig Beschäftigte weder staatliche Leistungen noch tarifliche und betriebliche Zusatzleistungen. Zwar hat die EG- Kommission bereits 1982 einen Richtlinienentwurf zur Absicherung von Teilzeitbeschäftigung vorgelegt, doch hat sie im EG-Ministerrat bisher keine Mehrheit gefunden. Es gibt daher keine einheitlichen EG- Mindeststandards für diesen Bereich. So reicht die untere Sozialversicherungsgrenze für TeilzeitarbeiterInnen von null Wochenstunden in Spanien bis zu 18 in der BRD. Dort gilt: Arbeitslosenversicherung ab 18 Wochenstunden, Krankenversicherung ab 15 Wochenstunden bzw. 440 DM Monatsverdienst, Rente ab 15 Wochenstunden bzw. 470 DM Monatsverdienst. Eine Studie der ISG Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (1988) gibt an, daß in der BRD rund 2,3 Millionen Personen, darunter 60 Prozent Frauen, sozialversicherungsfrei beschäftigt sind. Doch die Dunkelziffer dürfte erheblich höher liegen. In der DDR genossen Teilzeitbeschäftigte vollen Krankenschutz und alle materiellen und sozialen Leistungen entsprechend ihrer Arbeitszeit.
Eine deutliche Mehrheit der Frauen arbeitet trotz großer materieller und sozialer Nachteile und geringer beruflicher Aufstiegschancen „freiwillig“ Teilzeit. Die Freiwilligkeit rührt bei den meisten daher, daß sie auf dem Arbeitsmarkt keine anderen Angebote erhalten und/oder ihre Haushaltspflichten und die Erziehung der Kinder nicht anders schaffen. Fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen machen eine volle Erwerbstätigkeit oft unmöglich. Dabei variiert die Situation von Mitgliedsland zu Mitgliedsland sehr.
Während in Dänemark, Frankreich und Belgien fast alle Kinder (87 bis 95 Prozent) ab drei Jahren in öffentlich finanzierten Ganztagseinrichtungen untergebracht sind, können bundesdeutsche Mütter bis in die ersten Schuljahrer ihrer Kinder hinein auch einer geregelten Teilzeitarbeit nur mit Mühe nachkommen. In der Bundesrepublik werden drei Prozent der Kinder zwischen null und zwei Jahren vier Stunden pro Tag betreut. 60 Prozent der Kinder zwischen drei und fünf Jahren sind in Kindergärten, 12 Prozent in Ganztagskindergärten untergebracht. Horte für SchülerInnen gibt es kaum, und die Stundenpläne variieren von Tag zu Tag, so daß sich eine geregelte Arbeitszeit kaum einhalten läßt.
Aus für Kinderkrippen
Auf dem Gebiet der DDR gehörte eine bedarfsdeckende staatlich finanzierte Kinderbetreuung bisher zu einer der „Errungenschaften“. Bis zu 95 Prozent der Kinder zwischen null und zehn Jahren fanden in entsprechenden Einrichtungen (Krippen, Kindergärten, Schulhorte, Ferienspiele) Aufnahme. Die Unterbringung war kostenlos, die Eltern zahlten geringe Beträge für die Verpflegung. Jetzt droht das flächendeckende System in den FNL weitgehend den Bach runter zu gehen. Denn obwohl im Einigungsvertrag ausgehandelt wurde, daß sich der Bund bis Mitte 1991 an den Kosten beteiligt, „um die Weiterführung der Einrichtungen zur Tagesbetreuung von Kindern zu gewährleisten“, hat Bonn die Finanzierung zu Jahresbeginn eingestellt. Neue Zuschüsse sind noch nicht ausgehandelt, auch an Ländermitteln fehlt es, und die Kommunen in den neuen Ländern sind pleite. Bis zu 50 Prozent der gesamten Betreuungsplätze droht der Rotstift. Dann aber können viele Mütter dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen und an den notwendigen Umschulungs- und Weiterqualifizierungsmaßnahmen teilnehmen.
Keine Einstimmigkeit
EG-ExpertInnen und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) fordern seit geraumer Zeit EG-Richtlinien zur Kinderbetreuung sowie zur Sicherung des Mutterschafts- und Elternurlaubs. Aber selbst eine Gemeinschaftsinitiative für Mindestregelungen in Sachen Mutterschafts- und Elternurlaub scheiterte bisher an der notwendigen Einstimmigkeit im EG-Ministerrat.
An der strukturellen Diskriminierung von Frauen auf dem EG-Arbeitsmarkt und der damit verbundenen sozialen Benachteiligung hat sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert. Die Gleichstellungspolitik der EG blieb meist bloße Absichtserklärung. Die Selbstverpflichtung der Mitgliedsstaaten zur Herstellung der Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen — immerhin bereits 1957 im Artikel 119 des EWG-Vertrags festgeschrieben — war jahrzehntelang in Vergessenheit geraten, bevor 1975, im Internationalen Jahr der Frau, die Gleichstellungspolitik einen neuen Schub erhielt.
So umfaßten bis Ende 1989 die Maßnahmen gegen die Benachteiligung der Frauen fünf EG-Richtlinien und zwei Aktionsprogramme (ein drittes ist auf dem Weg), die mit „positiven Aktionen“ die Frauenbeschäftigung unmittelbar fördern und zur Beseitigung des geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktes beitragen sollten. Durch die Richtlinien wurden die Mitgliedstaaten aufgefordert, per nationalen Rechtsvorschriften die Lohngleichheit abzusichern, Frauen den gleichen Zugang zum Beruf zu gewähren, schrittweise die Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Bereich der sozialen Sicherheit zu verwirklichen, den Grundsatz der Gleichbehandlung bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit umzusetzen und selbständige und mitarbeitende Frauen in punkto sozialer Sicherheit abhängig beschäftigten Frauen gleichzustellen.
Doch obwohl die EG-Richtlinien für die Mitgliedstaaten bindend sind, wurden die ersten beiden Gleichstellungsrichtlinien in der Bundesrepublik bis heute nicht vollständig umgesetzt. Grundsätzlich sind EG-Richtlinien aber einklagbares Recht und könnten durchaus ein Motor für die Gleichstellungspolitik der Frauen am Arbeitsplatz sein. Voraussetzung ist jedoch, daß diese Rechte erstens bekannt werden und sich zweitens Klägerinnen finden, die bereit sind, die meist langwierige Prozedur bis zum Europäischen Gerichtshof durchzustehen. In der BRD kommt erschwerend hinzu, daß es kein Verbandsklagerecht gibt, das vielen Frauen, die sich am Arbeitsplatz diskriminiert fühlen, den Gang vor Gericht erheblich erleichtern könnte. Einige Frauen haben den Schritt dennoch gewagt, auch mit Erfolg. Aber eben immer noch viel zu wenige.
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