: Das Tao der Politik
„In der Welchselbeziehung von Ethik und Politik müssen ernsthafte moralische Überzeugungen das politische Handeln bestimmen, dann werden Mensch und Gesellschaft daraus tiefgreifenden Nutzen ziehen können. Es ist eine absurde Annahnme, daß Religion und Moral keinen Platz in der Politik hätten und daß sich religiöse Menschen in Einsiedeleien zurückziehen sollten. Bestimmte ethische Grundsätze sind für einen Politiker ebenso wie für einen Vertreter der Religion von entscheidender Bedeutung, da die gefährlichen Folgen vorhersebar sind, wenn unsere Politiker ihre moralischen Prinzipien außer acht lassen würden...“Dalai Lama
Wenn man dieses Zitat des Friedensnobelpreisträgers von 1988, des 14. Dalai Lamas, dessen Heimat Tibet seit 1950 von der VR China militärisch besetzt gehalten wird und der jede Form der Gewalt zur Lösung des Konfliktes mit der chinesischen Regierung ablehnt, liest, muß man sich doch fragen, wem die westliche Politik dient. Warum gelang es nicht, diesen grauenhaften Krieg am Golf zu vermeiden? Es dürfte in der Menschheitsgeschichte genügend Beispiele dafür geben, wie durch einen Krieg zwar kurzfristige Lösungen erzwungen, jedoch auf lange Sicht kaum politische Auswege erreicht wurden. Dies ist auch im Golfkrieg abzusehen. Schon heute sorgt sich der Westen um eine Einbuße seines politischen Einflusses im arabischen Raum. Kurz nach Ausbruch des Krieges gab es bereits Stimmen, die nach Ende der militärischen Kampfhandlungen eine Nahostkonferenz unter Beteiligung der Palästinenser forderten. Man spricht von einem „Marshall-Plan“ für die Region und von der Errichtung einer „neuen Weltordnung“.
In der Zwischenzeit gibt es eine Veröffentlichung des Instituts für internationale Wirtschaft in Washington, wonach das von der UNO am 6.8.1990 verhängte Wirtschaftsembargo gegen den Irak die mit Abstand erfolgreichste unter allen fünf Maßnahmen dieser Art seit 1914 war. Die Importe des Irak waren im Dezember um 90 Prozent, die Exporte sogar um 97 Prozent gesunken. Das Bruttosozialprodukt sank inzwischen um 47 Prozent. Diese informationen, die Anfang Dezember Präsident Bush vom CIA-Chef Webster vorgelegt wurden, stehen somit im klaren Widerspruch zu dem Argument, der Krieg sei unvermeidbar gewesen, weil die Wirtschaftssanktionen nicht erfolgreich waren.
Warum also diesen Krieg? Was ist das wirkliche Kriegsziel? Warum sollen wir glauben, daß er unvermeidbar war?
Die Staaten und Völker sind heute in einem Ausmaß voneinander abhängig geworden, daß ohne ein Bewußtwerden unserer universalen Verantwortung unsere Zukunft in Frage gestellt werden muß. Die Probleme einer Nation können heute nicht mehr umfassend gelöst werden, ohne dabei auch die Hilfe anderer Nationen in Anspruch zu nehmen. Die Formen der Entscheidungsfindung in den großen Institutionen und Instanzen sind mittlerweile unzureichend für die Lösung von Problemen, die sich aus den internationalen Verwicklungen ergeben haben. Diese Ver- und Entwicklungen haben eben auch dazu beigetragen, den Menschen von seiner Verantwortung der Natur gegenüber zu entfremden, was die Vernichtung unseres Planeten zur Folgen haben könnte.
Das uns mittlerweile dominierende analytische Denkmuster verleitet dazu, Probleme punktuell lösen zu wollen, Zusammenhänge nicht mehr wahrzunehmen. Die Konzentration auf einzelne Aspekte birgt die Gefahr, daß das isoliert betrachtete Problem ein Handeln zu fordern scheint. Dabei bietet Gewalt eine mögliche Lösung, der zu zahlende Preis ist hierfür die re-actio, die Gegengewalt. Im Kriegsfall, auch wenn es dafür „gerechte“ Gründe geben mag, treibt eine Autodynamik den Vernichtungswillen der Gegner weit über die anfänglichen, unausweichlichen und gerechtsscheinenden Motive hinaus, die am Anfang noch gestanden haben mögen. Somit wird Vernichtungszwang zum Movens der Auseinandersetzuung. Ihm kann und will sich keiner der Parteien mehr entziehen. Nur wenn man dem Krieg jedwede Gerechtigkeit abspricht, kann der Selbstgerechtigkeit der Kriegsparteien begegnet werden.
Dies erfordert ein Umdenken! In der taoistischen Philosophie, deren Begründer das Buch Tao Te King von Lao-tze ist, wird der Gedanke, daß Mensch und Natur eins sind, als Grundposition zum Verständnis der Welt vorausgesezt. Das Tao ist die Ordnung und das Wesen der Natur, es gibt keinen Unterschied zwischen Materie und Geist. Sie stehen in Wechselwirkung und sind voneinander abhängig. Die Taoisten erkennen die Kraft des weichen Wassers, welches auch den härtesten Stein formen kann, und huldigen dem nachgebenden Prinzip, welches versteht, die Dinge mit Distanz zu lenken, ohne sie der eigenen Herrschaft unterwerfen zu wollen. Im Taoismus gelten Yin (das Weibliche) und Yang (das Männliche) als einander durchdringende komplementäre Prinzipien. Das eine wird erst durch das andere erkennbar. Die Maxime in der taoistischen Philosophie ist das „wu wei“, das nicht-aktive Handeln nach den Grundsätzen der Natur. Ein Taoist folgt dem Tao und erkennt das Wesen der Menschen und der Dinge und kann sich somit in seinem Handeln auf Wesentliches konzentrieren. Wu wei ist eine Verbindung natürlicher Weisheit und des Weges des geringsten Widerstandes, manifestiert in klugem Handeln. Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges schrieb Bertolt Brecht unter dem Einfluß taoistischen Gedankenguts eine Parabel mit dem Titel Die Maßnahme gegen die Gewalt. In dieser Parabel kommt Herr Egge den Wünschen eines Agenten entgegen, der im Namen der Gewalt in seine Wohnung eindringt. Er „dient“ dem Agenten, indem er ihn viel essen, schlafen und befehlen läßt. Die ganze Zeit hindurch hütet sich Herr Egge, die Forderung des Agenten explizit abzulehnen. Eben durch dieses „Dienen“ wird der Agent immer dicker und findet schließlich den Tod. Erst dann schleift Egger ihn aus der Wohnung und sagt laut und deutlich: „Nein“. Brecht wollte hiermit eine antifaschistische Strategie veranschaulichen, die der Gewalt auf eine „listige“ Art entgegentritt, um ihr allmählich ein Ende zu bereiten. Dabei kommt die taoistische Auffassung zutage, wonach man aufgrund von Einsicht in die innere Gesetzmäßigkeit der Dinge, durch scheinbare Schwäche und Passivität das „Harte“ überwinden kann.
Übertragen auf die gegenwärtige Situation am Golf muß man sich fragen, ob unter dieser Maxime der Krieg nicht hätte verhindert werden können.
Wir meinen: Ja.
Das Prinzip des wu wei erfordert Geduld und Gewaltlosigkeit und beinhaltet die Notwendigkeit, sich selbst und anderen zu vertrauen. Ist dies nicht mehr Voraussetzung im zwischenmenschlichen Handeln, so ist die Menschheit dem Untergang schon anheimgegeben. Eine Anwendung solch eines Prinzips wäre die geduldige Fortsetzung der Sanktionen und die Bereitschaft zu einer Nahost-Konferenz gewesen. Man hätte Saddam Hussein die Möglichkeit genommen, das Palästinenserproblem zu instrumentalisieren, und der Westen hätte Flexibilität bewiesen. Wu wei bedeutet auch nicht Zwingen mit den gegebenen Möglichkeiten, und nicht gegen sie zu handeln, ohne dabei in opportunistische Verhaltensweisen zu verfallen. Es bedeutet auch „sich erniedrigen, um zu erobern“, man kann damit den Gegner durch den Impetus seines eigenen Angriffs besiegen.
Im Taoismus resultieren Nicht- Widerstand und Gewaltlosigkeit aus der Maxime des wu wei. Lao-tzu empfahl nicht nur Nicht-Widerstand, sondern auch, das Böse mit Gutem zu vergelten, wogegen jede Form von Gewalt als ein sicheres Merkmal der Barbarei bzw. des Verbrechens betrachtet wurde. „Zeig' mir einen gewalttätigen Menschen, der ein gutes Ende gefunden hat, und ich werde ihn zu meinem Lehrer erwählen“ (Tao Te King). Gewalt ist eine unreife Reaktion, und für einen klugen Menschen sollte sie eine Unmöglichkeit sein. Symptomatisch für eine Welt, in der der Lebensrhythmus immer schneller, die Konflikte zahlreicher werden, bietet Gewalt die falsche Hoffnung auf — wenn auch nur kurzfristige — Lösungen. So schrieb Chuang-tzu bereits im vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung: „Ein Sturmbock kann eine Mauer einbrechen, aber er kann die Lücke nicht wieder zumauern.“ Bis hinein in die heutige Zeit betrachtet man in China denjenigen, der in einem Streit den ersten Schlag führt, als den eigentlichen Verlierer, da der Tapferste als letzter seine Waffe erhebt. In solch einer geistigen Atmosphäre wird Krieg unentschuldbar, als tiefste Entwürdigung des Menschen unakzeptabel. [...]
Lao-tzu sagte, daß der wahre Mensch sich über die Unterscheidung von Gut und Böse erhebe, wichtig sei, daß beides ein Teil der Natur ist, und nach den Prinzipien des Tao, der Natur, gehandelt werden sollte. Hat der Mensch sich erst als Teil der Schöpfung erkannt und glaubt sich nicht länger als deren Beherrscher, so wird ihm Gewalt als absurd erscheinen müssen. Denn schadet man sich indirekt nicht selbst? So fällt jegliche Ausbeutung der Natur endlich auf ihrer „Eroberer“ zurück. Gewalt ist grundsätzlich ein Aus-dem- Gleichgewicht-Geraten, eine Überbetonung negativer Kraft, und muß zwangsläufig wieder solche hervorrufen. Haß wird nur Haß säen, eine Tatsache, die der Golfkrieg uns nur allzu deutlich vor Augen führt. Unser Fehler war, uns Saddam Husseins Gewalt aufzwingen zu lassen!
Studentisches Autorenkollektiv des ostasiatischen Seminar der Freien Universität Berlin
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